Eine Stunde am Stück arbeiten? Bis vor kurzem war das für Nora K.* (40) unmöglich. Schon nach 20 Minuten konzentrierter Arbeit vor dem Computer war die wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bund mit ihren Kräften so am Ende, dass sie eine mehrstündige Pause einlegen musste.
Corona hat der Bernerin die Energie geraubt. «Es hat mich im Juni 2020 erwischt», erzählt K. Einige Wochen nach der Ansteckung fielen ihr plötzlich Wörter nicht mehr ein. «Oder ich bin in der Migros gestanden und wusste einfach nicht mehr, wie man das Gemüse wägt.» Später legte sich eine bleierne Erschöpfung über sie. Arbeiten ging nicht mehr, sie musste sich krankschreiben lassen. Noch heute, über anderthalb Jahre nach der Ansteckung, ist die sportliche Frau nach der kleinsten Anstrengung vollkommen schlapp.
Erste IV-Renten wegen Long Covid
«Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal ein Fall für die IV werde», sagt Nora K. Doch im vergangenen Herbst sah sie keinen anderen Weg mehr: Sie meldete sich wegen Long Covid bei der Invalidenversicherung an.
K. ist eine von rund 1800 Personen, die nach einer Corona-Ansteckung an Langzeitfolgen leiden und derzeit deshalb bei den kantonalen IV-Stellen gemeldet sind. Ganz vereinzelt seien bereits erste Renten für Long-Covid-Patienten gesprochen worden, teilt das Bundesamt für Sozialversicherungen auf Anfrage mit. Genaue Zahlen kann man allerdings nicht nennen. Noch nicht. Eine entsprechende Erhebung bei den Kantonen laufe derzeit, sagt Mediensprecher Harald Sohns.
Die Corona-Fälle machen zwar nur gut zwei Prozent aller Anmeldungen bei der IV aus – darunter befinden sich zudem auch Personen, bei denen Long Covid nur eine Diagnose von mehreren ist. Doch es ist schwer abschätzbar, was in den nächsten Monaten noch auf die IV zukommt.
Taskforce ruft IV-Stellen dazu auf, sich vorzubereiten
Fest steht: Long Covid ist weitverbreitet, und die Symptome halten in einigen Fällen sehr lange an. Eine von hundert Personen, die an Corona erkranken, ist auch zwölf Monate danach gesundheitlich noch schwer beeinträchtigt, hat eine Studie der Uni Zürich ergeben. Wie hoch der Anteil bei der Omikron-Variante ist, wird sich zeigen.
Weil Betroffene frühestens nach einem Jahr Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf eine IV-Rente haben, werden eine Covid-19-Erkrankung und deren Langzeitfolgen für die Sozialversicherungen erst verzögert zum Thema. Viele Betroffene würden ausserdem aus Angst vor einer Stigmatisierung mit einer Anmeldung zögern, sagt Chantal Britt (53) von der Organisation Long Covid Schweiz. Diese Sorge ist auch der Grund, weshalb Nora K. in diesem Artikel anonym bleiben möchte.
Die langfristigen Folgen der Corona-Pandemie, auch für die IV, seien «noch nicht gänzlich absehbar», hielt denn auch die wissenschaftliche Taskforce in ihrer Lagebeurteilung Anfang Februar fest. Sie riet den IV-Stellen, sich zu rüsten: «Die mögliche Belastung der Invaliditätsversicherung durch Long Covid sollte eingeplant werden.»
«Man wird gesundgeredet»
Stand jetzt, so wirft Chantal Britt den Behörden vor, sei die IV «überhaupt nicht vorbereitet». Die Kommunikationsfachfrau, die selbst an Long Covid leidet, kritisiert, dass Betroffene vielfach abgewimmelt würden. Man werde «gesundgeredet», statt dass das Krankheitsbild ernst genommen werde, sagt sie.
Eine solche Erfahrung musste auch Isabelle B.* (29) machen – auch sie heisst in Wirklichkeit anders. Die Ostschweizerin leidet als Corona-Langzeitfolge ebenfalls unter einer enormen Erschöpfung, dazu kommen neurologische Störungen sowie Gelenk- und Muskelschmerzen. Sie ist deswegen krankgeschrieben, verlor ihren Job. «Doch die IV fand, ich bin zu 100 Prozent arbeitsfähig», erzählt sie. «Sie sagten, ich solle mich beim RAV melden.»
Die IV hat ihren Antrag auf Unterstützung zwar noch nicht definitiv abgelehnt, weil noch ein Gutachten fehlt. Blum geht aber nicht davon aus, doch noch Hilfe zu erhalten. «Ich habe das Gefühl, ich werde von den Behörden nicht ganz ernst genommen», sagt sie.
An sich kein neues Phänomen
Florian Steinbacher (49), Präsident der Konferenz der kantonalen IV-Stellen, kann die Kritik der Long-Covid-Betroffenen nicht nachvollziehen. Der Vorwurf, sie würden zurückgewiesen, sei «Unsinn», sagt er. «Wer Anspruch auf eine Leistung hat, der bekommt die Leistung auch.»
Steinbacher ist sichtlich bemüht, den Ball flach zu halten. Bei den Symptomen von Long Covid handle es sich nicht um neue Krankheitsbilder, betont er. Am Schluss laufe es meistens auf ein chronisches Erschöpfungssyndrom hinaus. «Das gab es auch schon vor Corona.» Doch weil die Krankheit schwer messbar ist, sind die Abklärungen kompliziert, bevor Betroffene allenfalls eine IV-Leistung erhalten.
Dabei geht es nicht nur um eine Rente. Bevor eine solche überhaupt in Betracht gezogen wird, versucht die IV, Menschen zumindest teilweise wieder fit für den Arbeitsmarkt zu machen – zum Beispiel mit einem Coaching oder einer Umschulung. Im Fall von Nora K. hat die zuständige IV-Stelle eine solche Eingliederungsmassnahme bewilligt.
«Ich schaue, dass der Puls immer unter hundert bleibt»
Seit Mitte Januar versucht die Bernerin nun ganz langsam wieder Tritt im Berufsleben zu fassen. Inzwischen kann sie wieder 20 Prozent arbeiten. Nora K. vermutet, dass der Fortschritt damit zusammenhängen könnte, dass sie inzwischen gelernt hat, sehr gut mit ihren Energiereserven zu haushalten. «Mithilfe einer Pulsuhr schaue ich, dass ich mit dem Puls immer unter hundert bleibe. Seit ich das berücksichtige, geht es besser.»
Sie fühle sich von der IV sehr gut begleitet, sagt Nora K. Dennoch sei es für sie immer wieder sehr schwierig, das plötzliche Eingeschränktsein zu akzeptieren. «Ich möchte einfach mein Leben zurück.»
So geht es auch Isabelle B., deren Gesundheitszustand sich in den letzten Monaten nicht merklich verändert hat. «Ich würde so gern wieder arbeiten können», sagt sie. «Ich wünschte mir, ich würde dabei Unterstützung bekommen.»
* Namen geändert