Neurowissenschaftler Dominique de Quervain warnt vor Long Covid
«Der Bundesrat nimmt Langzeitschäden in Kauf»

Der Basler Professor und Neurowissenschaftler Dominique de Quervain rechnet mit einem Anstieg von Long-Covid-Fällen und übt scharfe Kritik an den Aussagen des Bundesrats.
Publiziert: 16.01.2022 um 20:22 Uhr
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Aktualisiert: 16.01.2022 um 22:31 Uhr
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Der Basler Professor und Neurowissenschaftler Dominique de Quervain sagt: «Für die Politik spielt beim Erlassen oder dem Aufheben von Massnahmen ausschliesslich die Belastung der Spitäler eine Rolle. Long Covid könnte sich aber als ­weiteres, grosses gesundheitspolitisches Problem entpuppen.»
Foto: Christian Flierl / 13 Photo
Interview: Sven Zaugg

SonntagsBlick: Herr de Quervain, Gesundheitsminister Alain Berset behauptet: Omikron sei zwar hochansteckend, aber weniger gefährlich, eher wie eine Grippe oder Erkältung. Teilen Sie diese Einschätzung?
Dominique de Quervain:
Wenn Bundesrat Berset damit meint, dass Omikron die Lungen weniger stark befällt und man deshalb im Vergleich zu Delta ein kleineres Risiko hat, ins Spital oder auf die Intensivstation zu kommen, dann mag das stimmen. Den Vergleich mit anderen Erkrankungen finde ich aber problematisch – und vor allem gibt es noch andere Risiken.

Das heisst?
Von früheren Varianten wissen wir, dass Covid so ziemlich jedes Organ des menschlichen Körpers befallen kann. Und hier sind wir schon beim Thema der Langzeitschäden, also Long Covid. Das Virus kann auch bei milden Verläufen zu anhaltenden neurologischen Störungen wie Konzentrations- und Gedächtnisproblemen oder starker Müdigkeit führen. Auch gesunde Personen, die geimpft sind, haben ein Risiko. Und wir wissen noch nicht, ob Omikron abgesehen von der Lunge auch für andere Organe wie das Gehirn weniger schädlich ist. Bei den derzeit extrem hohen Fallzahlen bin ich schon besorgt.

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Dann dürften Sie sich auch nicht besonders wohlfühlen, nachdem der Bundesrat die Isolationsdauer verkürzt und die bestehenden Massnahmen bloss verlängert hat.
Ich bin kein Epidemiologe, sondern befasse mich mit den neurologischen Auswirkungen des Virus auf unser Gehirn. Man muss allerdings kein Spezialist sein, um festzustellen, dass bei steigenden Fallzahlen auch die Gefahr von Langzeitschäden zunimmt. Das nimmt der Bundesrat offensichtlich in Kauf.

Was auffällt: Long Covid scheint im Krisenvokabular des Bundesrats kaum zu existieren. Unterschätzen die Entscheidungsträger diese Gefahr?
Für die Politik spielt beim Erlassen oder dem Aufheben von Massnahmen ausschliesslich die Belastung der Spitäler eine Rolle. Long Covid könnte sich aber als weiteres, grosses gesundheitspolitisches Problem entpuppen. Für einen Teil der Betroffenen sind die Symptome sehr belastend und führen auch zu langfristigen Einschränkungen bei der Arbeit. Und mit Omikron könnten sehr viele Menschen davon betroffen sein. Das Thema gehört definitiv auf die politische Agenda.

Wer eine Corona-Infektion hinter sich und mehr als drei Monate danach noch Beschwerden hat, leidet nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation unter Long Covid. Wie viele Menschen sind betroffen?
Man geht davon aus, dass zwischen 10 und 30 Prozent der Infizierten Long Covid entwickeln, wobei die Häufigkeit je nach Studie und erfassten Symptomen variiert. Bei Omikron kennen wir die Häufigkeit noch nicht.

In der Schweiz werden Daten zu Long Covid nicht erfasst. Bundesrat Berset sagte im Interview mit SRF diese Woche nur, dass sich die Hausärzte darüber austauschen. Reicht das?
Nein. Hausärzte sind mit einem neuen Krankheitsbild konfrontiert, wofür noch keine Vergleichsdaten vorhanden sind. Es gibt keine zentrale Meldestelle, die alle Long-Covid-Fälle sammelt. Solche Daten wären jedoch wichtig, um mehr über die gesundheitspolitische Bedeutung der Erkrankung zu erfahren. Lediglich die IV führt ein Register über die Häufigkeit von Long-Covid-Fällen. Doch dort sind nur die schlimmsten Fälle registriert.

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Wenn jemand nicht mehr arbeiten kann.
Genau. Der Grossteil bleibt so aber unerkannt. Das könnte unser Gesundheitssystem in den kommenden Jahren arg strapazieren. Spätfolgen verursachen oft hohe Kosten. Hinzu kommen die Arbeitsausfälle.

Wie kommt das Virus eigentlich in unser Gehirn?
Eine mögliche Eintrittspforte ist der Riechnerv. Obduktionen zeigen, dass das Coronavirus sich in verschiedenen Hirnregionen einnisten und über mehrere Monate dort verbleiben kann.

Und wenn das Virus in unseren Denkapparat eingedrungen ist, was macht es da genau?
Das wissen wir nicht. Es kann sein, dass das Virus im Gehirn für bestimmte neurologische Symptome verantwortlich ist. Es ist aber auch möglich, dass Veränderungen im Immunsystem oder andere Mechanismen eine Rolle spielen.

Helfen die Impfungen und der Booster gegen Long Covid?
Ja, sie helfen vor allem, indem sie vor einer Ansteckung schützen. Leider hat dieser Schutz bei Omikron drastisch abgenommen. Nur der Booster schützt noch einigermassen gut, aber die Wirkung lässt über die Monate ebenfalls nach. Im März sollten die ersten Omikron-Vakzine auf den Markt kommen. Hoffentlich bieten diese wieder einen sehr hohen Schutz vor Infektionen und damit auch vor Long Covid.

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Wie gefährlich ist Long Covid für Kinder?
Long Covid kommt auch bei Kindern vor, allerdings gibt es noch kaum Untersuchungen zum Schweregrad der Erkrankung. Deshalb sollte man das Vorsorgeprinzip anwenden und Kinder vor Ansteckungen schützen.

Gibt es für Menschen mit Long Covid Hoffnung auf Heilung?
Einige Studien zeigen bei gewissen Symptomen wie Atemproblemen eine Besserung über die Zeit. Andere Symptome wie Konzentrations- und Gedächtnisprobleme halten sich über Monate hartnäckig. Leider existiert derzeit noch keine Therapie, es wird aber intensiv danach geforscht – auch in der Schweiz.

Auch an Ihrem Institut?
Ja, basierend auf unserer Forschung werden wir bald eine Studie starten und untersuchen, ob sich kognitive Probleme bei Long Covid mit einem Medikament verbessern lassen.

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