Nach der Begrenzungs-Initiative
Ab jetzt streitet die Schweiz wieder über die EU

Tonnenschwere Papierstapel und Beamten-Mikado: Nach der Abstimmung zur Begrenzungs-Initiative könnte endlich wieder Bewegung in die Diskussion um das Rahmenabkommen mit der Europäischen Union kommen. BLICK bringt Sie wieder auf den neuesten Stand.
Publiziert: 27.09.2020 um 11:20 Uhr
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Aktualisiert: 14.10.2020 um 12:32 Uhr
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Ein Ja zur Begrenzungs-Initiative hätte das Ende der Bilateralen bedeutet. Jetzt kann die Diskussion ums Rahmenabkommen mit der EU weitergehen.
Foto: Keystone
Lea Hartmann, Gianna Blum

Die Corona-Krise hat politisch vieles auf Eis gelegt. Aber über den Stand der Dinge, was das Rahmenabkommen mit der EU betrifft, wollte schon vorher eigentlich keiner mehr reden. Zu gross das Risiko, dass mit einem Ja zur Begrenzungs-Initiative der SVP in Sachen EU alles wieder auf Feld eins zurückmuss. Nach dem heutigen Abstimmungssonntag dürfte aber wieder Fahrt in die Debatte kommen. BLICK beantwortet die drängendsten Fragen.

Was ist der Stand der Dinge?

Der Bundesrat will den bilateralen Weg weitergehen, alte Verträge aufdatieren und neue schliessen, die unserer Wirtschaft den Zugang zum EU-Markt erleichtern. Seitens der Europäischen Union ist die Bedingung dafür aber ein Rahmenabkommen. Damit soll sichergestellt werden, dass die Änderungen des EU-Rechts in den bislang 120 Verträgen automatisch übernommen werden, ohne dass jedesmal neu verhandelt werden muss. Auch ein Mechanismus für den Streitfall zwischen Bern und Brüssel gehört dazu.

Die Verhandlungen haben Jahre gedauert, die Papierstapel sind tonnenschwer. Seit Ende 2018 sind die Verhandlungen offiziell beendet, und es liegt ein Vorschlag der EU auf dem Tisch. Es soll für fünf bestehende und alle künftigen Abkommen gelten, die der Schweiz Zugang zum europäischen Markt verschaffen.

Der Entwurf ist in der Schweiz höchst umstritten und hat weder im Parlament noch in der Bevölkerung wirkliche Mehrheiten. Nachverhandeln will die EU eigentlich nicht, entsprechend vermeidet der Bundesrat das V-Wort und redet lieber von Präzisierungen oder Klarstellungen.

Was sind die grossen Knacknüsse?

Es sind drei Bereiche, in denen noch Klärungsbedarf besteht: der Lohnschutz, die Unionsbürgerrichtlinie und die staatlichen Beihilfen. «Wenn in diesen Bereichen eine Lösung gefunden wird, unterzeichnet der Bundesrat das Abkommen», sagte Aussenminister Ignazio Cassis (59) im letzten Jahr.

  • Lohnschutz:
    Die EU will, dass die Schweiz ihre Richtlinien übernimmt, was den Schutz vor Lohndumping anbelangt. Doch diese gehen weniger weit als die derzeit in der Schweiz geltenden Regeln. Zum Beispiel würde die Anmeldefrist für ausländische Unternehmen verkürzt und es gäbe weniger Kontrollen. Für die Gewerkschaften kommt ein Entgegenkommen beim Lohnschutz nicht infrage. Sie wollen, dass das Thema komplett aus dem Abkommen ausgeklammert wird.

  • Unionsbürgerrichtlinie:
    In der Unionsbürgerrichtlinie legt die EU fest, welche Ansprüche EU-Bürger in anderen Staaten haben. Würde sie die Schweiz übernehmen, könnten EU-Bürger in hierzulande beispielsweise schneller Sozialhilfe beziehen und Aufenthaltsbewilligungen könnten schwerer entzogen werden. Die EU wollte im Vertragstext festhalten, dass die Schweiz die Richtlinie innert einer bestimmten Frist übernimmt. Der Bundesrat hingegen wollte sie explizit vom Abkommen ausnehmen. Als Kompromiss wird die Unionsbürgerrichtlinie jetzt einfach gar nicht erwähnt. Es wird befürchtet, dass das früher oder später für die Schweiz zum Problem wird.

  • Staatliche Beihilfen
    Unter staatlichen Beihilfen versteht die EU Steuererleichterungen und andere Vorteile, die der Staat gewissen Unternehmen gewährt. Diese sind in der EU im Grundsatz verboten, wenn sie den Wettbewerb verfälschen. In der Schweiz hingegen sind sie weit verbreitet – es geht zum Beispiel um Beiträge zur Tourismusförderung, Staatsgarantien für Kantonalbanken oder Subventionen für Wasserkraftwerke. Die Schweiz will in diesem Bereich das Rahmenabkommen präzisieren, damit solche Subventionierungen künftig nicht verboten werden.

Und was ist mit den «fremden Richtern»?

Doch auch ein viertes Thema ist umstritten. Was passiert, wenn sich die Schweiz und die EU in die Haare geraten? Die Antwort auf diese Frage ist ein zentraler Punkt des Rahmenabkommens. Vor einigen Jahren war es der grösste Zankapfel in den Diskussionen hierzulande – Stichwort «fremde Richter». Der Rahmenvertrag sieht vor, dass bei einer Auseinandersetzung ein Schiedsgericht zum Zug kommen würde. Geht es um EU-Recht, hätte allerdings der Europäische Gerichtshof das letzte Wort. Zwischenzeitlich war der Streit um die Streitbeilegung angesichts der obigen drei Problembereiche etwas in den Hintergrund gerückt. Doch nun ist er voll wieder da.

Wie geht es jetzt weiter?

Wird die Begrenzungs-Initiative wie erwartet abgelehnt, liegt der Ball bei der Schweiz – sie muss dann Vorschläge machen, wie es weiter gehen soll. Aussenminister Cassis hat angekündigt, nach einem Nein zur SVP-Initiative die Diskussionen wieder aufnehmen zu wollen. Schon Anfang Oktober soll ausserdem eine Schweizer Delegation aus dem Parlament nach Brüssel reisen. Doch während die SVP davor warnt, dass der Bundesrat nun Nägel mit Köpfen machen will, sieht es inzwischen danach aus, als ob das Rahmenabkommen chancenlos bleibt. Einzig bei den staatlichen Beihilfen ist eine Lösung wahrscheinlich, doch ein Lohnschutz-Kompromiss ist Wunschdenken, wie BLICK-Recherchen zeigen.

Der Bundesrat muss letztlich entscheiden, ob er das vorliegende, ungenügende Abkommen unterschreibt und dem Parlament vorlegt – oder es selbst für tot erklärt.


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