Das war wohl die grösste Befürchtung des Bundesrats vor seinem Entscheid, das Rahmenabkommen zu beerdigen: dass eine neue Eiszeit anbricht, die EU auf die langen und guten Beziehungen pfeift und uns mit Nadelstichen oder Schlimmerem traktiert.
Umso besser zu erfahren, dass die Schweiz in diesem Kreis noch Freunde hat, die sich für unser Land einsetzen. Allen voran: Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (34). «Das Nein der Schweiz zum Rahmenabkommen ist bedauerlich, kam aber nicht überraschend», sagte dieser am Donnerstag in einer Videokonferenz mit den Regierungschefs von Griechenland, Lettland, Spanien sowie dem Präsidenten Bulgariens. «Nun gilt es die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass unsere Beziehungen, etwa im Wissenschaftsbereich, weiterhin möglichst eng bleiben», so Kurz.
Diese Botschaft müsste in Brüssel ankommen: Teilnehmer an der Videokonferenz war auch Charles Michel (54), Präsident des Europäischen Rats.
Kurz fordert in Brüssel eine Diskussion
Kanzler Kurz kündigte an, sich beim Treffen der EU-Staatschefs Ende nächster Woche «für eine strategische Diskussion über die Beziehungen der EU mit der Schweiz» einzusetzen, wie ein Sprecher des Bundeskanzlers gegenüber Blick bestätigt. «Die Schweiz ist ein wichtiger Partner und Nachbar im Herzen Europas. Es ist für mich unvorstellbar, dass die EU zwar ihre Beziehungen mit Staaten ausserhalb Europas weiter intensiviert, sich jene zur Schweiz aber verschlechtern», so Österreichs Staatslenker weiter.
Damit scheint die Charmeoffensive des Bundesrats erste Früchte zu tragen. Denn gleichzeitig mit dem Nein zum Rahmenabkommen entschied die Landesregierung nämlich, dass Ignazio Cassis (60) einen politischen Dialog mit der EU starten soll – einen fixen Rahmen für regelmässige Treffen mit der EU-Spitze in Brüssel. Einen solchen regelmässigen Dialog gibt es bis heute nicht.
Aussenminister Cassis hatte Ende Mai daher die Schweizer Botschafter in den EU-Mitgliedsstaaten angewiesen, die Idee für institutionalisierte, regelmässige Treffen den jeweiligen Regierungen vorzuschlagen. Diese sollen dann Druck auf die Kommission in Brüssel machen.
Cassis auf Tour d'Europe
Und Ignazio Cassis legt sich auch selbst ins Zeug. Am vergangenen Wochenende traf er zuerst seinen österreichischen Amtskollegen Alexander Schallenberg, dann Sebastian Kurz selbst. Cassis soll den österreichischen Bundeskanzler dabei die Schweizer Position und den Abbruchsentscheid erklärt haben.
Am Donnerstag traf Cassis in Paris Jean-Yves Le Drian (73), den französischen Minister für Europa und auswärtige Angelegenheiten. Auch hier standen die europapolitischen Perspektiven der Schweiz im Mittelpunkt.
Und dabei bleibt es nicht: Nächsten Mittwoch geht es nach Berlin an die Libyenkonferenz, wo Cassis neben dem Gastgeber, dem deutschen Aussenminister Heiko Maas (54), noch weitere europäische Amtskollegen treffen wird. Auch hier dürfte der Tessiner versuchen, am Rande der offiziellen Gespräche das Thema Europa anzuschneiden.
Damit nicht genug. Die Charme- und Informationsoffensive geht weiter: Cassis wir über den Sommer zu einer wahren Tour d'Europe aufbrechen – geplant sind gemäss Blick-Recherchen unter anderen Reisen in die baltischen Staaten und nach Spanien.
Ob er dort überall so gute Freunde antrifft wie in Wien, bleibt abzuwarten. Viele EU-Staaten dürften sich denken, die Schweiz habe die Situation, in der sie steckt, ja selbst verschuldet. Andere könnten die Unnachgiebigkeit der EU im Nachhinein als falsch ansehen.