Die Mitholzer müssen ihre Häuser verlassen. Bundesrätin Viola Amherd (58, CVP) teilte den Einwohnern des kleinen Ortes im Berner Kandertal in einer Videobotschaft und mit einem Brief mit, dass die Landesregierung am Freitag entschieden hat, die Munitionsrückstände im einstigen Munitionslager definitiv räumen zu wollen.
Doch was ist passiert, dass Bewohner des schmucken Dorfs im Berner Oberland sprichwörtlich auf einem Pulverfass sitzen? Wenige Tage vor Weihnachten 1947 erschütterten mehrere gewaltige Explosionen Mitholz. Im unterirdischen Munitionslager, etwas oberhalb der Wohnhäuser, detonierte rund die Hälfte der dort von der Armee eingelagerten 7000 Tonnen Granaten und Munition.
Der Schutthaufen galt lange als ungefährlich
Bei einer der weltweit grössten Explosionen, die nicht von einer Atombombe verursacht wurde, starben neun Menschen. Sieben wurden verletzt, viele Häuser zerstört.
Jahrzehntelang hielt man den Schutthaufen für ungefährlich, obwohl klar war, dass nur ein Teil der Munitionsreste detoniert war. Erst 2018 stellte das Eidgenössisches Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) in einer neuen Risikoanalyse fest, dass vom früheren Munitionslager eine enorme Gefahr ausgeht, die den Bewohnern von Mitholz nicht zugemutet werden kann. Denn die Munitionsrückstände können jederzeit hochgehen.
Jetzt hat sich die Landesregierung zur nicht ungefährlichen Räumung durchgerungen. Laut Amherd werden die ersten Anwohner ihre Häuser ab 2025 verlassen müssen. Weitere Betroffene in den rund 50 bis 60 Häusern dürften 2030 wegmüssen. Ab da starten die eigentlichen Räumungsarbeiten. Mitholz wird zum Geisterdorf – zehn Jahre lang.
Es zeichnet sich ab, dass die Räumung beim Bund Kosten von 500 bis 900 Millionen Franken verursacht. Den definitiven Finanzierungsplan legt das VBS im Herbst 2022 vor.
VBS nimmt sich der Zukunft der Bewohner an
Wie Amherd ankündigte, führt der Bund ab 2021 Bewertungen der Häuser von Mitholz durch. Das sei eine erste Grundlage, um die finanzielle Entschädigung der Betroffenen zu regeln. Man wolle aber im persönlichen Gespräch mit den Mitholzerinnen und Mitholzern Fragen zur Zukunft der Bewohner anschauen.
Verschiedene Familien wohnen seit Generationen in Mitholz. Manche Bewohner sind betagt. Einige haben ihr ganzes Leben im Kandertal verbracht. Für die älteren Menschen dürfte es besonders schwer sein, jetzt noch entwurzelt zu werden.
Einer der in Mitholz geboren wurde, ist Albert Künzi. Der Buschauffeur erzählt gegenüber Blick TV, er würde sich heute nicht mehr für die Räumung des Schuttkegels und des einstigen Munitionslagers aussprechen. 2018, als auch er dafür war, habe man noch nicht gewusst, dass man dann für zehn Jahre wegziehen muss.
«Das zerreisst doch unser Dorf», sagt Künzi, der Luftlinie 180 Meter vom Munitionslager weg lebt. Der Kandergrunder Gemeinderat glaubt nicht, dass viele in seiner Gemeinde bleiben, zu der das Dorf Mitholz gehört. Die Leute würden nach Frutigen und Kandersteg ziehen. Auch Künzi weiss noch nicht, wo er hinziehen wird. Dabei ist er einer der ersten, die gehen müssen. «Es ist ein Stich ins Herz», resümiert er.
VBS-Chefin Amherd entgegnet Künzi und den anderen, die weg müssen: «Wir werden die Heimat nicht ersetzen können.» Sie verspricht jedoch: «Aber wir wollen gemeinsam faire und gute Lösungen finden.»
Rückfallposition Überdeckung
Und trotz aller Bemühungen zum Wohl der Mitholzer: Ganz sicher ist es noch immer nicht, dass tatsächlich sämtliche der noch vor Ort verbliebenen 3500 Tonnen Munitionsrückstände abgetragen werden können. Für den Fall, dass sich die Munition als derart explosiv erweisen sollte, dass die Bergung für die Beteiligten viel zu risikoreich wäre, wird auch eine blosse Überdeckung der Munitionsrückstände im Fels geprüft. Diese Variante minimierte die Gefahr für die Bevölkerung und die Umwelt jedoch nur. Zwar bliebe den Anwohnern der Wegzug erspart, aber eben: eine Überdeckung löste das Grundproblem nicht.