Walter Gerzner (76) war noch ein Kleinkind, als er um 1950 zusammen mit seinen sechs Geschwistern ins Waisenhaus Einsiedeln kam. Das Kinderheim wurde damals von Schwestern des Klosters Ingenbohl geführt. Doch es war auch eng verzahnt mit dem Kloster Einsiedeln. Die Mönche unterrichteten Religion und predigten am Sonntag in der örtlichen Jugendkirche. Die Kinder wiederum waren Ministranten. Auch Walter Gerzner.
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Zum Verhängnis wurde dem Bub, dass er im Unterricht von Pater A. nicht aufs Maul sitzen konnte. Damals war er etwa acht Jahre alt, den genauen Zeitpunkt kann Walter Gerzner nicht mehr rekonstruieren. «Weil ich mich getraute, dem Pater zu widersprechen, sagte er, ich sei ungehorsam.»
«Er warf seine Kutte über mich»
Pater A. beorderte den Knaben am schulfreien Nachmittag zu sich ins Kloster. «In seiner Kammer musste ich mich ausziehen und mich vor ihm hinknien. Er warf seine schwarze Kutte über mich und drückte meinen Kopf zwischen seine Beine. Ich wusste nicht, wohin mit meinen Händen, er zwang mich, seine Beine zu umklammern. Es war grauenhaft.
Walter Gerzner hat von diesem Vorfall lange Jahre niemandem erzählt. Nicht den Nonnen im Waisenhaus und auch nicht später im privaten Umfeld. «Mir hätte ohnehin niemand geglaubt.» Inzwischen ist er längst pensioniert.
Erst jetzt hat er die Kraft aufgebracht, dem Abt des Klosters Einsiedeln Urban Federer (55) zu schreiben – über 60 Jahre nach dem Vorfall. Er will wissen, was aus seinem Peiniger geworden ist, ob es noch weitere Opfer unter den Waisenkindern gab und ob das Kloster von den Übergriffen wusste. Denn Walter Gerzner erinnert sich, dass auch andere Kinder zu Pater A. aufs Zimmer mussten.
Der untätige Abt
Sexuelle Übergriffe im Umfeld des Klosters Einsiedeln waren schon ums Jahr 2010 ein Thema. Damals setzte das Kloster eine externe Kommission ein, die 2011 zu einem denkwürdigen Ergebnis kam: Seit den 1950er-Jahren haben sich 15 Mönche der sexuellen Übergriffe schuldig gemacht, die Rede war von mindestens 40 Opfern. Der Schlussbericht ist bis heute unter Verschluss. Walter Gerzners Fall wurde damals nicht dokumentiert, weil er von der Untersuchung gar nichts wusste.
Der Abt schreibt Walter Gerzner zwar Worte der Anteilnahme, erklärt aber, ein Pater mit diesem Namen sei im Untersuchungsbericht von 2011 nicht erwähnt worden. Gleichzeitig verweist er ihn an einen Psychologen und an die Opferhilfestelle. In einem zweiten Brief schreibt ihm der Abt: «Da ich nichts mehr von Ihnen gelesen habe, gehe ich davon aus, dass ich im Moment nichts unternehmen muss.»
Die Reaktion des Einsiedler Abts stürzt Walter Gerzner in eine Krise. Er hat nicht die Energie, dem Abt erneut zu schreiben. Monatelang ist er wie gelähmt. Eine Anlaufstelle kontaktieren will er nicht, und «einen Psychologen brauche ich nicht». Er wird den Verdacht nicht los, das Kloster glaube ihm nicht.
Abt ignoriert die Meldepflicht
Fast ein Jahr lang passiert nichts. Erst als sich der Beobachter einschaltet, kommt Bewegung in die Sache: Der Abt betont auf Anfrage, er sei davon ausgegangen, eine Fachperson würde nun gemeinsam mit dem Betroffenen die nächsten Schritte bestimmen. Sich selbst sieht er nicht in der Pflicht: Damit nicht «der geringste Verdacht aufkommt», er würde den Fall nicht ernst nehmen oder gar vertuschen, müsse sich ein Opfer an eine unabhängige Anlaufstelle wenden.
Damit ignoriert Abt Federer die kirchenrechtliche Ermittlungs- und Meldepflicht bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch einen Kleriker. Urban Federer geht noch einen Schritt weiter und hält auf Nachfrage fest: «Mit einer Voruntersuchung warte ich zu, bis eine Ermittlungsbehörde tätig geworden ist.»
Eine seltsame Äusserung. Denn bei einer potenziellen Straftat, die sich vor über 60 Jahren ereignet hat, nehmen Strafuntersuchungsbehörden ohnehin keine Ermittlungen mehr auf. Zudem denkt Walter Gerzner nicht daran, eine Strafanzeige einzureichen. Er will seine leidvolle Geschichte nicht erneut ausbreiten. Für ihn steht auch eine finanzielle Wiedergutmachung derzeit nicht im Vordergrund. Er will einzig wissen, was aus dem Pater geworden ist und ob er allenfalls für seine mutmasslichen Taten zur Rechenschaft gezogen wurde.
Die Suche nach dem Pater
Dem Beobachter teilt Abt Federer mit, aus der Schilderung gehe nicht eindeutig hervor, um welchen Pater es sich beim mutmasslichen Täter gehandelt hat. Denn Mitte der 1950er-Jahre sei ein Pater mit diesem Namen verstorben. Ein anderer mit dem gleichen Namen habe erst «ein paar Jahre später» im Kloster gelebt.
Recherchen des Beobachters zeigen jedoch: Der besagte Pater war bis Ende der 1960er-Jahre in Einsiedeln. Er war auch kein Unbekannter: Vier einstige Bewohnerinnen und Bewohner des Waisenhauses Einsiedeln bestätigen, sich an ihn zu erinnern.
Er lebt noch – in Einsiedeln
Annemarie Iten, die über ihre Erlebnisse im örtlichen Kinderheim ein Buch veröffentlicht hat, sagt: «Ich war Anfang der 1960er-Jahre in der Unterstufe, ich kann mich gut an diesen Pater erinnern.» Sonntags habe er in der Jugendkirche von der Kanzel gepredigt, und auch einen Jugendtreff habe er gegründet. Später soll Pater A. versetzt und anderswo als Priester tätig gewesen sein.
Der Beobachter folgt der Spur und findet heraus: Pater A. lebt noch. Und zwar nicht irgendwo. Sondern hochbetagt im Kloster Einsiedeln – das von Abt Federer geleitet wird. Und der angeblich nicht weiss, welcher Pater damals im Waisenhaus unterrichtet hatte.
Abt erstattet Meldung nach Rom
Mit diesem Fakt konfrontiert, hält Abt Urban Federer nun plötzlich fest, er habe bereits eine Meldung nach Rom erstattet und könne diese nun «konkreter fassen und weitere Schritte unternehmen». Was genau er tut, sagt Abt Federer nicht. Was der mutmassliche Täter zum Missbrauchsvorwurf sagt, ist nicht bekannt. Unklar ist, ob er überhaupt von der Beobachter-Anfrage weiss, die beim Abt deponiert wurde.
Urban Federer hält nur fest, er könne «der Bitte um eine Stellungnahme nicht entsprechen» und mache deshalb keine öffentliche Aussage dazu. Es gilt die Unschuldsvermutung.