Migrationsexperte Erik Marquardt sagt, woran die europäische Asylpolitik krankt
«Europa nimmt es einfach hin, dass Menschen sterben»

Der EU-Migrationsexperte Erik Marquardt übt scharfe Kritik an der europäischen Asylpolitik. Den Flüchtenden würden kaum Rechte zugestanden.
Publiziert: 01.08.2021 um 20:14 Uhr
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«Europa hat zwar Flüchtende auf­genommen, es aber verpasst, Strukturen aufzubauen, um den Menschen Zugang zu fairen und zügigen Asylverfahren, zu Bildung und damit auch zur Gesellschaft zu ermög­lichen», sagt der deutsche EU-Parlamentarier und Migrationsexperte Erik Marquardt.
Foto: Murat Tueremis/laif
Interview: Sven Zaugg

Seit die Pandemie das Geschehen und die öffentliche Wahrnehmung dominiert, sind Flucht und Migration nicht mehr die bestimmenden Themen. Doch das Sterben auf den Mittelmeerrouten und an den europäischen Aussengrenzen geht weiter. Und die Situation der Menschen in den Flüchtlingslagern in Griechenland bis Spanien hat sich kaum verbessert.

«Die Asylpolitik der Europäischen Union ist auf dem Weg ins Verderben», konstatiert der deutsche Politiker Erik Marquardt, der für die Grünen im EU-Parlament sitzt. Nun hat er dazu ein Buch geschrieben: «Europa schafft sich ab».

Blick: Herr Marquardt, seit 2015 beobachten Sie Migrationsbewegungen; auf den griechischen Inseln, entlang der Balkanroute, auf dem Mittelmeer. Welche Entwicklung stellen Sie fest?
Erik Marquardt: Es ist ernüchternd. Die Lage der Flüchtenden hat sich nochmals drastisch verschlimmert.

Inwiefern?
Europa hat zwar Flüchtende aufgenommen, es aber verpasst, Strukturen aufzubauen, um den Menschen Zugang zu fairen und zügigen Asylverfahren, zu Bildung und damit auch zur Gesellschaft zu ermöglichen. Dadurch wurden Existenzen zerstört. Wir organisieren Parallelgesellschaften im Irrglauben, dass die Menschen verschwinden.

Wie kam es dazu?
Indem man sich für eine Politik der Abschreckung entschieden hat. Eine Strategie, die darauf abzielt, dass die Bedingungen für Flüchtende möglichst schlecht sein sollen. Zum Beispiel mit der Kürzung von Essensrationen, fehlender medizinischer Versorgung oder der Einschränkung von Asylverfahren. Das soll andere davon abhalten, die Reise nach Europa anzutreten. Eine Denkschule, die sich in der europäischen Asylpolitik leider durchgesetzt hat.

Was müsste stattdessen passieren?
Flüchtende brauchen möglichst schnell Zugang zu Bildung und Arbeit. Natürlich haben nicht alle Menschen das Recht in Europa zu bleiben, aber alle haben das Recht auf ein ordentliches Verfahren. Am besten wäre ein System, das nicht auf Massenlager an den Aussengrenzen setzt, sondern die Schutzsuchenden fair in Europa verteilt.

Das gelingt nur, wenn sich alle EU-Staaten auf einen Verteilschlüssel einigen. Das war bislang nicht der Fall.
Deswegen sollten einige Mitgliedsländer vorangehen und die Aufnahme von Flüchtenden in einer Koalition der Willigen mit den Aussengrenzstaaten organisieren. Es geht momentan um ungefähr 100 000 Menschen im Jahr, die verteilt werden müssten. Das muss Europa hinkriegen, auch wenn Ungarn, Polen und Tschechien das gerne verhindern würden.

Asylpolitik ist immer auch Innenpolitik. Eine harte Hand gegen Ausländer wird von Teilen der europäischen Bevölkerung goutiert ...
… die Rechten bewirtschaften die Ausländerfeindlichkeit und die Ablehnung gegenüber Flüchtenden, statt die Probleme anzupacken. Damit feiern sie grosse innenpolitische Erfolge. Doch die Lösung liegt ja nicht nur innerhalb der territorialen Grenzen von Staaten wie Frankreich, Deutschland oder der Schweiz.

Das heisst?
Wir wollen keine Welt, in der alle nach Europa kommen müssen, um ein anständiges Leben führen zu können. Wir müssen uns fragen, wie wir künftig humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit oder Handelspolitik gestalten. Offenbar haben wir hier grossen Nachholbedarf. Schauen Sie sich die Flüchtlingslager in Libyen an, wo gefoltert und vergewaltigt wird. Es darf uns nicht verwundern, dass da niemand bleiben will.

Persönlich: Erik Marquardt

Der Politiker und Fotojournalist Erik Marquardt (33) sitzt seit 2019 für die deutschen Grünen im Europaparlament. Marquardt ist Vorsitzender von Civilfleet, einer Crowdfunding-Plattform, die Geld zur Unterstützung der zivilen Seenotrettung sammelt und Boote chartert. Er war selbst mehrfach als Seenotretter auf dem Mittelmeer, organisierte Hilfsprojekte auf Lesbos sowie entlang der Balkanroute und berichtete aus Afghanistan. Marquardt lebt in Berlin und Brüssel.

Der Politiker und Fotojournalist Erik Marquardt (33) sitzt seit 2019 für die deutschen Grünen im Europaparlament. Marquardt ist Vorsitzender von Civilfleet, einer Crowdfunding-Plattform, die Geld zur Unterstützung der zivilen Seenotrettung sammelt und Boote chartert. Er war selbst mehrfach als Seenotretter auf dem Mittelmeer, organisierte Hilfsprojekte auf Lesbos sowie entlang der Balkanroute und berichtete aus Afghanistan. Marquardt lebt in Berlin und Brüssel.

Es fällt auf, dass der Populismus in der europäischen Politik beim Thema Migration zur Enthumanisierung der Flüchtenden beigetragen hat. Wie hat das unser Bild der Menschen auf der Flucht geprägt?
Die Enthumanisierung der Flüchtenden hat dazu geführt, dass unmenschliche Entscheide in der breiten Bevölkerung mehrheitsfähig geworden sind. Ob Kinder suizidal werden, die Polizei Flüchtende foltert – Europa nimmt es einfach hin, dass Menschen sterben.

Wie konnte es so weit kommen?
Der Hass in Teilen der europäischen Bevölkerung wurzelt nicht nur in der Ablehnung gegenüber allem Fremden. Die gescheiterte Asylpolitik und die, vielleicht auch gewollte, Überforderung der Staaten, hat dazu geführt, dass viele das Gefühl haben, die Politik habe die Situation nicht mehr im Griff.

Dieses Eindrucks kann man sich nur schlecht erwehren.
Ja, aber es gibt keinen rationalen Grund, weshalb im Lager Moria auf Lesbos, das für 2500 Menschen ausgelegt war, zeitweisen über 20 000 Menschen zusammengepfercht leben mussten. Auch solch scheinbare Überforderung gehört zur Abschreckungspolitik.

Gibt es überhaupt noch so etwas wie eine gemeinsame europäische Asylpolitik?
Es wird immer wieder kritisiert, dass sich die Europäische Union nicht auf eine gemeinsame Asylpolitik einigen könne. Ich sage, man hat sich eigentlich ganz gut verständigt. Nur hat diese Politik nichts mehr mit Rechtsstaatlichkeit, den Grundsätzen Europas und der Achtung der Menschenwürde zu tun. Man hat sich einfach für Abschottung entschieden. Und dafür, die eigenen Gesetze zu brechen.

Welche?
Das Recht auf ein anständiges Asylverfahren wurde beschnitten. Lieber macht man Deals mit Drittstaaten wie der Türkei, zahlt Milliarden, damit sich die Flüchtenden stillhalten. Und die Grenzschutzagentur Frontex schaut dabei zu, wie EU-Staaten Menschenrechte brechen und tut dann so, als wüsste sie von nichts.

Zahlreiche Videos und Medienberichte haben Pushback, gewaltsame Rückführungen, dokumentiert. Wie muss man sich das vorstellen?
Überfüllte Schlauchboote werden mitten in der Nacht von der griechischen Küstenwache in türkische Gewässer zurückgedrängt. Dabei dreschen Beamte aus EU-Staaten vermummt mit Eisenstangen auf Boote ein und feuern Warnschüsse ab. Es häufen sich Berichte über Folter an der kroatisch-bosnischen Grenze. Flüchtende werden gezwungen, sich zu entkleiden. Ihnen werden die Haare geschoren, Kreuze auf die Stirn gemalt und Fingernägel ausgerissen.

Das Europäische Parlament hat einen Untersuchungsausschuss eingerichtet, der die illegalen Aktionen von Frontex ermitteln soll. Sie sind Teil des Ausschusses. Was haben Sie bislang erreicht?
Wir haben einen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass Frontex von Pushbacks gewusst haben muss. Frontex-Direktor Fabrice Leggeri hat das Parlament mehrfach belogen und verhindert aktiv eine Aufarbeitung der Fälle, zum Beispiel indem Beweise gelöscht werden sollten. Wenn die EU wirklich eine Verbesserung bei Frontex will, dann müssen sie endlich einen neuen Exekutivdirektor einsetzen. Das EU-Parlament sollte eine weitere Budgetaufstockung von Frontex blockieren, bis die Agentur nachweisen kann, dass sie die Mittel seriös und effizient einsetzt.

Verstehe ich Sie richtig, die Pushbacks sind gut dokumentiert. Doch niemand wird zur Verantwortung gezogen?
In der Praxis werden die Pushbacks von Beamten aus den EU-Mitgliedstaaten an den Aussengrenzen durchgeführt. Wenn eindeutige Berichte und Recherchen veröffentlicht werden, dann gibt sich die Kommission immer betont besorgt, sagt aber auch offen dass die Aufklärung nicht in ihrer Verantwortung liege. Dabei könnte die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die betreffenden Staaten und auch gegen Frontex einleiten.

Was kann die Schweiz tun, um die Situation der Flüchtenden zu verbessern?
Die Schweiz könnte ein überschaubares jährliches Kontingent einrichten und Menschen von den Aussengrenzen direkt aufnehmen. Wir brauchen eine Aufnahmebereitschaft von weniger als einer Person pro 1000 Menschen in Europa pro Jahr. Dann haben wir in der Migrationspolitik kein Problem mehr. Nur, es fehlt am Willen.

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