Micheline Calmy-Rey zum Nahen Osten
«Gaza auszuradieren, wird die Idee des Widerstands nicht auslöschen»

Die ehemalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey blickt mit Besorgnis auf den Nahen Osten. Im Interview sagt sie, was aus ihrer Sicht den Krieg zwischen Hamas und Israel ausgelöst hat und wie gross die Gefahr eines Flächenbrands ist.
Publiziert: 15.10.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 14.10.2023 um 20:32 Uhr
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Die Kämpfe toben weiter. Israelis entfernen die Leichen von Hamas-Angreifern in einem Kibbuz in der Nähe von in Be'eri.
Foto: Getty Images
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Amit Juillard

Vor 20 Jahren wurde die Genfer Initiative unterzeichnet. Deren Ziel war, den israelisch-palästinensischen Konflikt durch die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung zu lösen. Initiatorin war Micheline Calmy-Rey (78).

Zwei Jahrzehnte später glaubt die ehemalige Schweizer Aussenministerin nicht mehr daran: «90 Prozent des Landes zwischen Mittelmeer und dem Jordan sind de facto in den Händen Israels», sagte die Sozialdemokratin im Interview mit Blick. Aber die Genferin hat die Hoffnung auf Frieden nicht aufgegeben, auch wenn «ein sichererer Naher Osten für seine Bewohner viel Verzicht und viel Willenskraft erfordern wird».

Micheline Calmy-Rey, wenn Sie noch Aussenministerin wären, hätten Sie sich dafür eingesetzt, dass die Schweiz die Hamas auf die Liste der verbotenen terroristischen Organisationen setzt?
Micheline Calmy-Rey: Es ist Sache des Bundesrates, darüber zu entscheiden. Er hat eine Task Force beauftragt, zu prüfen, unter welchen Bedingungen dies geschehen könnte.

Sie wollen sich nicht äussern?
Ich verstehe und befürworte den Schritt. Der Angriff der Hamas ist grausam und kann durch nichts gerechtfertigt werden. Da die Hamas nicht auf der Liste der terroristischen Organisationen der Vereinten Nationen steht, kann die Schweiz sie nicht verbieten. Es wird Aufgabe des Bundesrates sein, das Interesse der Schweiz an der Einstufung der Hamas als terroristische Organisation zu definieren. Bisher hatte er stets argumentiert, dass es notwendig sei, direkten Kontakt mit der Hamas zu halten, um beispielsweise über die Freilassung von Geiseln verhandeln zu können, und dass eine Einstufung als Terrororganisation den Dialog erschweren könnte.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in Israel und Gaza?
Israel wurde auf grausame Weise angegriffen. Die Taten der Hamas führen zu einer existenziellen Sorge des jüdischen Staates, der ein Zufluchtsort für die jüdische Gemeinschaft ist. Die israelische Regierung ist gezwungen, sehr stark und militärisch zu reagieren. Daher die sehr, sehr harte Antwort und die Entscheidung, Gaza zu belagern, ohne Zugang zu Strom, Wasser und andere Lebensgrundlagen.

Sind Sie besorgt?
Wir wissen, dass Gaza nur 10 Prozent seiner Nahrungsmittel und 37 Prozent seiner Elektrizität selbst produziert. Normalerweise benötigen 60 Prozent der Einwohner humanitäre Hilfe, und 70 Prozent der Waren, die nach Gaza gelangen, werden durch Israel transportiert. Die humanitäre Lage in Gaza ist also katastrophal und wird sich in den nächsten Tagen wahrscheinlich noch verschlechtern.

Es gibt bereits Appelle, das Völkerrecht zu respektieren.
Natürlich. Diese Appelle sind wichtig, auch wenn sie nicht immer gehört werden. Die Aktionen der Hamas sind aus der Sicht des humanitären Völkerrechts inakzeptabel. Was die Reaktion Israels betrifft, so muss sie verhältnismässig sein und im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht stehen.

Haben Sie den Eindruck, dass dies der Fall ist?
Das humanitäre Völkerrecht verbietet es, Zivilisten anzugreifen, und verlangt, sie zu schützen. In Israel und im Gazastreifen sind jedoch viele Zivilisten gestorben oder verletzt worden, manchmal auf brutale Weise. Beide Seiten könnten nach Ansicht von Völkerrechtlern wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden.

Was ist aus Ihrer Sicht der Hintergrund, der zum aktuellen Krieg geführt hat?
Seit 1967 wurden Teile des Westjordanlandes durch eine aggressive Siedlungspolitik annektiert. Auf der anderen Seite gibt es eine geschwächte Palästinensische Autonomiebehörde und den Aufstieg der Hamas, die die Idee des Widerstands gegen die Besatzung symbolisiert und sich zunehmend radikalisiert. Nach einer weit verbreiteten Meinung war es jedoch die Normalisierung der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Israel, die die aktuelle Situation ausgelöst hat. Die aktuellen Ereignisse werden diese Normalisierung schwächen oder sogar zunichtemachen. Jetzt steht das Schicksal der Palästinenser wieder im Mittelpunkt des Interesses Saudi-Arabiens.

Amnesty International spricht von Apartheid in Israel und den besetzten Gebieten. Sehen Sie das auch so?
Die Realität vor Ort zeigt die Existenz eines einzigen Staates, Israel: 90 Prozent des Landes zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan sind de facto in den Händen Israels, einer Besatzungsmacht im Sinne des Völkerrechts. Die Palästinenser werden heute im gesamten Staatsgebiet, einschliesslich der besetzten palästinensischen Gebiete, nicht gleich behandelt wie Israelis. Das ist eine Herausforderung.

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Wie lange wird dieser Krieg Ihrer Meinung nach dauern?
Das ist schwer zu sagen. Wenn die Reaktion Israels stark ist, könnte dies Gruppen wie die Hisbollah dazu veranlassen, einzugreifen. Im Moment sieht man jedoch, dass sowohl die israelische Regierung wie auch Hisbollah vorsichtig sind. Trotz allem gibt es eine Reihe internationaler Interessen in diesem Konflikt.

Besteht die Gefahr, dass der gesamte Nahe Osten in Flammen aufgeht? Beispielsweise durch einen Krieg zwischen Israel und dem Iran?
Es ist klar, dass der Iran involviert ist und verhindern will, dass die arabischen Staaten sich weiter an Israel annähern. Aber es stellt sich die Frage, ob der Iran wirklich Interesse an einem neuen Krieg im Nahen Osten hat. Denn eigentlich bemüht er sich, aus seiner Isolation herauszukommen, und konnte kürzlich einen Gefangenenaustausch mit den USA aushandeln.

Können wir jemals mit Frieden rechnen?
Bisher wurde der Konflikt auf Sparflamme gestellt und der Status quo gefördert, in der Hoffnung, dass sich der israelisch-palästinensische Konflikt so von selbst löst. Das Ergebnis ist, dass die Waffen sprechen. Man kann die Hamas ausrotten, man kann Gaza dem Erdboden gleichmachen, aber man wird die Idee des Widerstands gegen die Besatzung nicht auslöschen. Viele junge Menschen ohne Zukunft sind von dieser Idee des Widerstands überzeugt.

Sie haben sich 2003 mit der Genfer Initiative für die Zwei-Staaten-Lösung eingesetzt. Ist sie noch möglich?
Ich bin besorgt, wenn ich sehe, wie jeder mit der Zwei-Staaten-Lösung herumspielt und diese auf einen Begriff reduziert, der allen entgegenkommt.

Schaut man auf die Landkarte, sieht man, dass die palästinensischen Gebiete, insbesondere im Westjordanland, wie Schnee in der Sonne geschmolzen sind.
In der Tat: Es wird schwierig sein, aus den Überresten des palästinensischen Territoriums einen Staat zu machen. Aber ich habe Hoffnung. Verschiedene Denkfabriken denken über neue Lösungen nach, wie etwa die Gründung einer Konföderation.

Was sind Ihrer Meinung nach die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden?
Es gibt verschiedene konkrete Probleme: der Status von Jerusalem, die Siedlungen, das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge und so weiter. Diese Probleme müssen gelöst werden. Der Weg zu einem Nahen Osten, der für seine Bewohner sicher ist, erfordert viel Verzicht und viel Willenskraft.

Sie haben Israel und die palästinensischen Gebiete mehrmals besucht. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Ich war vor allem deshalb vor Ort, weil die Schweiz Gesprächskanäle mit extremistischen Gruppen offen gehalten hat. So handelten wir beispielsweise 2011 den Gefangenenaustausch aus, der zur Freilassung von 1027 Palästinensern im Austausch für den israelischen Soldaten Gilad Shalit führte. Ich bin immer mit dem Ziel der Versöhnung dorthin gereist und um nach Lösungen für konkrete Probleme zu suchen.

Wie ist das, wenn man über die Freilassung von Geiseln verhandelt?
Diplomatie bedeutet, Geduld zu haben, vorsichtig einen Schritt nach dem anderen zu machen und das Ziel im Auge zu behalten. Das ist eine äusserst schwierige Aufgabe, die sich über Monate hinziehen kann. Und das ohne Erfolgsgarantie.

Ihre Nerven müssen auf eine harte Probe gestellt worden sein.
Natürlich. Man ist mit Einsätzen und Zielen konfrontiert, bei denen es um Menschenleben geht ...

Wie haben Sie es geschafft, nicht in Schockstarre zu verfallen?
Man macht einfach seine Arbeit. Man lässt sich nicht von Emotionen überwältigen. Man konzentriert sich auf konkrete Lösungen. Das ist etwas, was die Schweizer übrigens sehr gut können. Denn die Schweizer verhandeln ständig, auf allen Ebenen. Und wenn man nach Kompromissen sucht, wird man kreativ. Es ist eine Übung, die anstrengend und stressig ist, aber sie lohnt sich.

Sie haben einige Siege errungen, mit den Schweizer Geiseln in Libyen, in Israel-Palästina ...
... zwischen der Russischen Föderation und Georgien auch. Am Ende einer erfolgreichen Verhandlung verspürt man grosse Erleichterung.

In solchen Momenten ist man sicher auch extrem müde und fühlt eine Leere. Vielleicht fliessen Tränen?
Ja, all das kann passieren und ist mir natürlich auch passiert.

Wann haben Sie eine Träne vergossen?
Als ich in Zürich landete, nachdem ich die letzte Schweizer Geisel aus Libyen geholt hatte. Das war das Ergebnis von eineinhalb Jahren Verhandlungen mit dem Schurken-Regime von Gaddafi. Oder nachdem die Vermittlung zwischen Armenien und der Türkei abgeschlossen war und beide Seiten Ok gesagt hatten: Danach verbrachte ich zwei Wochen mit einer schweren Grippe im Bett.

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