Macron oder Le Pen? Heute wählt Frankreich
«Wer fünf Jahre im Élysée wohnt, hält sich irgendwann für den König»

Der Comiczeichner Mathieu Sapin jagt französischen Präsidenten hinterher. Ein Gespräch über die Kampagne, die Mächtigen, und die Monarchie.
Publiziert: 24.04.2022 um 13:44 Uhr
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Mathieu Sapin ist ein Star der französischen Comicszene.
Foto: Mathieu Genon/opale.photo/laif
Interview: Camille Kündig

SonntagsBlick: Herr Sapin, es gibt ein Foto, auf dem Brigitte Macron ihrem Mann, dem Präsidenten, Ihre Comics um die Ohren haut. Erklären Sie mir das?
Mathieu Sapin: (Lacht) Im Sommer 2019 setzte der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro einen nicht gerade charmanten Facebook-Kommentar über Brigitte Macron ab, erinnern Sie sich? Scheinbar scherzte Emmanuel Macron darüber, und Brigitte klatschte ihm um die Ohren, was sie gerade in der Hand hielt: meine Skizzen.

Sie begleiteten Macron während der Kampagne für einen neuen Comic. Wie haben Sie die TV-Debatte am Mittwoch mit Marine Le Pen erlebt?
Ich war am Sitz von En Marche mit einem Teil seines Teams. Die Stimmung war elektrisierend, da es dieses Mal um einiges knapper wird als 2017. Auch wenn sich die meisten einig sind, dass Macron inhaltlich besser war, hat er sich in der Form vertan. Die Debatte endete für mich in einem Unentschieden. Ich habe den Eindruck, dass sich für Menschen, die Le Pen schätzen, nichts geändert hat und umgekehrt.

2017 waren Sie während des Blamage-Duells für Le Pen hinter den Kulissen des Fernsehstudios …
Macron war noch keine 40 und galt als der kleine Neue. Man fragte sich: «Wird sie ihn zermalmen?» Im Laufe des Duells wurden alle hysterisch. Es war lustig, spätere Minister zu sehen, die sich bei seinen Punchlines vor Lachen kringelten und wie kleine Kinder vor Vergnügen auf- und abhüpften. Da kam die pure menschliche Natur zum Vorschein.

Verraten Sie uns, wer aus lauter Freude herumsprang?
Christophe Castaner zum Beispiel, späterer Innenminister.

Halb Reporter, halb Comiczeichner: Mathieu Sapin

Mathieu Sapin (47) ist ein Star der französischen Comicszene und hat sich mit augenzwinkernden Bild-Reportagen über die Mächtigen der Kunst und der Politik einen Namen gemacht. Er begleitete unter anderem fünf Jahre lang Gérard Depardieu, wurde unter Ex-Präsident François Hollande Chronist des französischen Politiktheaters hinter den Kulissen des Élysées. 2016 ist er zum «Ritter der Künste und Literatur» gekürt worden. In seinem neusten Comic «Zwölf Präsidentenreisen», das beim Zadig-Verlag erscheint, reist er mit Emmanuel Macron quer durch Frankreich.

Mathieu Sapin (47) ist ein Star der französischen Comicszene und hat sich mit augenzwinkernden Bild-Reportagen über die Mächtigen der Kunst und der Politik einen Namen gemacht. Er begleitete unter anderem fünf Jahre lang Gérard Depardieu, wurde unter Ex-Präsident François Hollande Chronist des französischen Politiktheaters hinter den Kulissen des Élysées. 2016 ist er zum «Ritter der Künste und Literatur» gekürt worden. In seinem neusten Comic «Zwölf Präsidentenreisen», das beim Zadig-Verlag erscheint, reist er mit Emmanuel Macron quer durch Frankreich.

Sie zeichnen die Sachen so, wie Sie sie sehen. Warum öffnen Ihnen Politiker Türen, die Journalisten oft verschlossen bleiben?
Es hat etwas Schmeichelhaftes, gezeichnet zu werden, sie lieben es. Ausserdem gelten Comics als ein bisschen nett, ein bisschen Unterhaltung, ein bisschen was für Kinder. Als etwas harmloses. Zum Teil liegen sie damit natürlich falsch. Im Gegensatz zu den meisten Journalisten habe ich viel Zeit. Verbringt man genügend Tage mit jemandem, kommt irgendwann sein wahres Gesicht zum Vorschein.

Wer ist denn Emmanuel Macron?
Ein Chamäleon. Er gibt sich cool, wenn er mit jungen Leuten spricht, ist ernst und kompetent im Gespräch mit Wirtschaftsführern, im Austausch mit Schauspielern und Schriftstellern zeigt er gerne, wie kultiviert er ist.

Er ist also fake?
Das ist ein Vorwurf, den ihm viele machen.

In einem Comic bezeichnet ein anonymer Bekannter ihn als Looser, der eine Winner-Postur pflegt …
Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben, wie es so schön heisst. Macron kannte seine Niederlagen, zeigt sie aber nicht. Die Aufnahmeprüfung zur renommierten Verwaltungshochschule ENA etwa bestand er erst im zweiten Versuch. Ich finde das aber eher beruhigend. Ein Präsident muss nicht perfekt sein.

Er wollte – und das ist der Running Gag eines Ihrer Bücher – dass Sie ihn Gérard Depardieu vorstellen. Hat es das Dinner zwischen den beiden gegeben?
Nein, Depardieu war nicht interessiert! (lacht). Glücklicherweise leben wir nicht mehr zur Zeit der Könige und jedem steht frei, mit dem Präsidenten zu dinieren oder nicht.

Wie verlief die jetzige Kampagne vor dem Hintergrund der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine?
Schleppend. Von Anfang an wurde ein Déjà-vu prognostiziert, vor diesem stehen wir nun. Zwar brachte Éric Zemmour etwas Bewegung rein, kurzzeitig erlebte die republikanische Rechte mit Valérie Pécresse ein Hoch, am Ende sind beide untergegangen. Es fehlte an Spannung, an Momenten, in denen tatsächlich etwas anderes möglich schien. Politik verfolgt sich heute wie eine TV-Serie. Etwas Unerwartetes muss geschehen, sonst langweilt sich der Beobachter. Das spiegelt sich in der hohen Stimmenthaltung wider. Ein Viertel der Stimmbürger war im ersten Wahlgang nicht an der Urne.

Einer Ihrer Kollegen begleitet Le Pen für einen gemeinsamen Bildband. Was erzählt er über sie?
Sie hat hart an ihrem Image gearbeitet, um zugänglich, bodenständig und besänftigt zu wirken. Im Gegensatz zu Macron erscheint sie nun volksnah, «wie alle». Dabei lebte sie bereits als Mädchen in den schönsten Vierteln, kommt aus in einer millionenschweren Familie. Die moderate Fassade bröckelt an ihren Meetings. Dort bekommt mein Kollege mit, wie unter ihren Anhängern Nationalismus verbreitet ist und rassistische Aussagen fallen.

Hat Sie eine gute Kampagne geführt?
Ja, statt grosse Meetings zu halten, reiste sie in Dörfer, traf die Franzosen auf Augenhöhe und in überschaubarem Rahmen. Sie interessierte sich für ihre Anliegen, richtete ihr Augenmerk auf die Kaufkraft.

Wie lebt es sich als Politiker?
Wir denken, sie führen einen luxuriösen Alltag. De facto ist er penibel, sie schlafen kaum, Privates ist auf ein Minimum begrenzt, sie werden durch den Dreck gezogen. Auf Macrons Gesicht zeichnen sich nach einem Quinquennat Spuren von zehn Jahren ab. Eine Ministerin Nicolas Sarkozys sagte mir einst, alle Politiker seien etwas verrückt. Sie könnten in anderen Branchen einfacher und genauso gut ihren Lebensunterhalt verdienen.

Die Macht macht es aus.
Absolut, es ist faszinierend, dies zu beobachten. Man spürt, sie sind bereit, diese Opfer zu bringen. Das Gefühl muss für sie überwältigend sein.

Sie sprechen in Ihren Comics oft über den neomonarchischen Effekt der fünften Republik …
Wer fünf Jahre im Élysée wohnt, hält sich irgendwann für den König. Der Palast ist architektonisch völlig in sich selbst gekehrt, wendet sich ausdrücklich nicht zum Volk. Es herrscht ein strenges Protokoll, das auf Napoleon zurückgeht, ein System mit einer zentralen und vertikalen Macht. Dass dieses nicht mehr zeitgemäss ist, zeigt sich in der Frustration der Bevölkerung.

Wird der König heute gestürzt?
Ich vermute, Macron wird knapp wiedergewählt. Liegen weniger als acht Punkte zwischen den beiden, ergibt sich eine fragile Maxime. Das Land wird weiter gespalten sein. Ausserdem befürchte ich einen «Trump-Effekt»; dass Le Pen der Ansicht sein könnte, die Wahl sei unter diesem oder jenem Vorwand nicht konform. In jedem Fall stehen uns komplizierte Wochen und Monate bevor.

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