Lynn Bertholet geht in die Politik
«Ich träume davon, die erste Trans-Politikerin in Bern zu sein»

Lynn Bertholet ist Vorstandsmitglied der Genfer Grünen und hat politische Ambitionen. Die 60-jährige Transfrau und ehemalige stellvertretende Direktorin einer Privatbank will in den Grossen Rat und träumt vom Nationalrat im Jahr 2023.
Publiziert: 11.08.2022 um 08:34 Uhr
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Lynn Bertholet ist die Initiatorin des Verfahrens, das es Trans-Personen erleichtert, ihr Geschlecht auf dem Zivilstandsamt zu ändern.
Foto: MAGALI GIRARDIN/DR
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Amit Juillard

«France 2», «Closer», «L'illustré», «Le Temps», Darius Rochebin, «RTS»: Lynn Bertholet (60) ist an die Medien gewöhnt. Sie hat dort von ihrer Transidentität erzählt, von ihrem Kampf, vor der Operation das Geschlecht auf dem Zivilstandsamt ändern zu lassen, von ihrem Kampf, die Kosten für ihre Brustvergrösserung und die Korrektur ihrer Augenbrauenbögen erstattet zu bekommen. Und von ihrer «zweiten Geburt» – ihrem Erwachen in einem Frauenkörper 2017.

Die ehemalige Direktorin einer Genfer Privatbank und ehemalige Dozentin an der Uni Genf ist seit Mai Vorstandsmitglied der Grünen am Genfersee und hat noch nie ein gewähltes Mandat ausgeübt. In ihrer Küche kündigt sie an, dass sie sich um einen Sitz im Genfer Grossen Rat und parallel dazu auch im Nationalrat bewerben will.

Blick: Sie wollen wirklich in die Politik?
Lynn Bertholet: In Bern zu sitzen, ist ein Traum, eine Fantasie. Ich kann aber nicht von Ehrgeiz sprechen, denn wenn ich es nicht schaffe, werde ich nicht enttäuscht sein. Aber mein Ego findet, dass ich es verdienen würde – ich habe viel für die Trans-Gemeinschaft getan.

Fehlt deren Repräsentation in der Gesellschaft?
Eines Tages traf ich die Mutter eines Trans-Jugendlichen. Ich gab ihr ein paar Informationen, Adressen. Und am Ende sagte sie mir: «Madame, ich danke Ihnen sehr, denn wenn ich Sie sehe, habe ich den Eindruck, dass mein Sohn eine Zukunft hat.» Positive Darstellungen sind wichtig, wir brauchen Vorbilder.

Wird in den Medien nicht schon sehr viel über Transidentität berichtet?
Nein. Wir waren lange Zeit unsichtbar. Es ist eine ganze Kultur, die wir ändern müssen. Das gilt zum Beispiel auch für die Themen Rassendiskriminierung und gemischte Gesellschaften. Es gibt einen echten Mangel an Repräsentation in den Sphären der Macht – deshalb möchte ich in die Politik gehen.

In Zeiten der Inflation und der Wirtschaftskrise sind manche Menschen der Meinung, dass es wichtigere Kämpfe gibt.
Diese Menschen kennen nicht die Eisenhower-Matrix, diese Managementtheorie, die zwischen dem Wichtigen und dem Dringenden unterscheidet. Es gibt Kämpfe, die heute dringlich sind, aber langfristig nur wenig Bedeutung haben. Beispielsweise ist es nötig, Massnahmen gegen die Inflation zu ergreifen, aber man weiss, wie man damit umgeht. Beim Klimawandel weiss man schon lange, was man tun müsste, aber man handelt nicht, obwohl es um das Überleben der Spezies geht. Das Klima ist also wichtig, und es ist dringend geworden. Mit der Arbeitslosigkeit von Transmenschen hingegen kann man nicht umgehen, ebenso wenig wie mit medizinischen Fragen für Transmenschen. Und wenn man über Transidentität spricht, geht es oft um Leben und Tod.

Kann man aus einer Geschlechtsidentität ein politisches Programm machen?
Nein. Ich sage es Ihnen ganz klar: Meine Transidentität ist eines meiner Merkmale, aber ich will nicht deswegen gewählt werden! Ich möchte gewählt werden, weil ich Kompetenzen habe: in Wirtschaft, Management, Sozialpolitik... Ich hatte Führungspositionen in Banken inne, habe 18 Jahre lang an der Universität Genf gelehrt und habe eine Vision für unsere Gesellschaft.

Nennen Sie ein Beispiel?
Trotz teilweise hoher Gehälter bin ich mein ganzes Leben lang Mieterin geblieben, weil ich nie das nötige Eigenkapital hatte. Je mehr ich zu sparen versuchte, desto höher stiegen die Immobilienpreise und desto weniger hatte ich die 20 Prozent Eigenkapital, die ich für den Kauf einer Immobilie brauchte. Für mich besteht der wahre Schutz des Mieters darin, ihm zu ermöglichen, seine Wohnung zu kaufen. Ich wäre dafür, dass man eine Wohnung nach dem Modell eines Leasings kaufen kann wie bei einem Auto, mit der Möglichkeit, die gezahlten Zinsen von der Steuer abzusetzen wie bei einem Hypothekarkredit. Das würde nicht mehr kosten als eine Miete.

Warum sind Sie den Grünen beigetreten?
Zunächst einmal wegen der ganzen Klimafrage. Ich will nicht sagen, dass ich an Öko-Angst leide, aber ich denke, dass es dramatisch ist, was meine Generation der nächsten hinterlassen wird.

Angesichts Ihres beruflichen und akademischen Werdegangs hätte man Sie eher auf der rechten Seite vermutet.
Ich glaube an die unternehmerische Freiheit, an die Freiheit des Einzelnen und ich denke nicht, dass dies ein Widerspruch zum Kampf der Grünen ist. Aber ich gebe zu, dass ich mich im Laufe der Jahre verändert habe. Ich war sehr überzeugt von dem, was ich an der Universität gelehrt hatte, und dachte, dass der Markt diese Frage regeln würde. Aber es funktioniert nicht! Schlimmer noch: Wenn man versucht, eine CO2-Steuer einzuführen, um die Klimakosten in die Preise einzubeziehen, kämpfen die rechten Parteien dagegen. Der Markt ist vielleicht das am wenigsten schlechte System, aber wir müssen zugeben, dass er viel stärker reguliert und langsamer werden muss.

«Ich bin zum Beispiel keine Antimilitaristin», sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin.
Foto: MAGALI GIRARDIN/DR

Die Grünliberalen waren für Sie nicht attraktiv?
Ich mag generell keine Opportunisten. Bei den Grünliberalen gibt es viele davon. Es sind rechte Leute, die sich für das Klima einsetzen, weil es gerade in Mode ist. Dennoch bin ich nicht immer auf einer Linie mit den Positionen meiner Partei. Ich bin zum Beispiel keine Anti-Militaristin. Ich habe gegen die Abschaffung der Armee und für Kampfflugzeuge gestimmt. Um Frieden zu haben, muss man den Krieg vorbereiten. Der Krieg in der Ukraine zeigt es deutlich: Gegen Autokratien muss man stark sein. Um Autokratien zu bekämpfen, braucht man auf der anderen Seite Entwicklungshilfe, die es den Menschen auch ermöglichen würde, in ihren Ländern zu bleiben.

Warum gehen Sie erst jetzt in die Politik?
In meinem Leben haben mich viele Leute gefragt, warum ich nicht in die Politik gehe. Ich hatte andere Dinge zu tun, ich arbeitete 60 bis 80 Stunden pro Woche. Und in Privatbanken war es nicht sehr angesehen, sich politisch zu betätigen, weil man dann weniger für das Unternehmen zur Verfügung stand.

«Mein Ego findet, dass ich einen Sitz im Nationalrat verdienen würde – ich habe viel für die Trans-Gemeinschaft getan.»
Foto: MAGALI GIRARDIN/DR

Warum arbeiten Sie nicht mehr bei jener Privatbank?
Das hängt mit meiner Geschlechtsumwandlung zusammen. Mir wurde das nicht so gesagt, aber ich interpretiere es so: Als ich von meinen Operationen zurückkam, wurde mir immer weniger Arbeit zugeteilt, obwohl ich bis zum Schluss meine Führungsposition behielt. Ich wurde allein in ein Büro gesetzt und aus dem Team, in dem ich war, herausgenommen. Und sobald ich eine Frau war, gab man mir keine Ziele mehr vor und senkte mein variables Gehalt, weil ich meine Ziele nicht erreichte... Eines Tages sagte man mir: «Es tut mir leid, aber wir haben keine Stelle mehr, die Ihrem Qualifikations- und Kompetenzniveau entspricht.»

Ist Ihr politisches Engagement auch auf diese Entlassung zurückzuführen?
Nein. Mir ist vor allem bewusst geworden, dass es noch viel zu tun gibt, um den Klimawandel zu bekämpfen und Transgender-Personen zu unterstützen. Ich war vor allem sehr enttäuscht, dass Transphobie nicht zusammen mit Homophobie im Strafgesetz aufgenommen wurde. Es gibt auch sechsmal so viele arbeitslose Transfrauen und Transmänner wie arbeitslose Cismänner und Cisfrauen. Unter den LGBT-Verbänden haben viele in den letzten 30 Jahren das T vergessen. Bei ihnen steht das T für «transparent» und nicht für «transgender». Deshalb habe ich den Verein Epicene gegründet. Einer unserer Kämpfe ist es, zu zeigen, dass Transmenschen Menschen wie alle anderen sind. Heute können wir Transmenschen endlich für uns selbst sprechen.

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