Noch bevor die Sondierungsgespräche mit der EU abgeschlossen sind, macht Livia Leu (62) als Staatssekretärin Schluss. Sie will künftig lieber in der Schweizer Botschaft in Berlin verweilen, als weiterhin nach Brüssel eilen.
Dabei habe die Diplomatin den Job der Staatssekretärin «unbedingt» gewollt, wie es aus Botschafterkreisen heisst. Doch schon nach zweieinhalb Jahren mag sie ihre Aufgaben als Staatssekretärin, der Nummer zwei im Aussendepartement, nicht mehr erledigen.
Gegenseitiger Respekt
Der «Tages-Anzeiger», der Leus Abgang schon am Dienstagabend publik machte, berichtet von Differenzen mit ihrem Chef, Aussenminister Ignazio Cassis (62). Obwohl die beiden nicht immer als ein Herz und eine Seele galten, mag niemand von offensichtlichen Differenzen berichten. Auch Leu – ganz Diplomatin – spricht am Mittwoch vor Medien von einer guten Zusammenarbeit, geprägt von gegenseitigem Respekt.
Auftrieb hat hingegen in Bundesbern die Erzählung, dass Leus Aufgabe ohnehin eine Mission Impossible sei. Just nachdem der EDA-Kommunikationschef und frühere Schweiz-Verkäufer Nicolas Bideau (53) verlauten liess, man stehe kurz vor einer Lösung mit Brüssel, sucht Leu das Weite. Politiker kritisieren, dass Leu nicht bis im Sommer hat warten können, bis sie ankündigt, die deutsche Currywurst den Fritten in Brüssel vorzuziehen.
Kalte Füsse
Entweder der Gesamtbundesrat oder der Aussenminister bekämen jeweils kalte Füsse, wenn man kurz vor der Einigung stehe, sagen verschiedene Quellen. «Dann wird jeweils der Unterhändler in die Wüste geschickt und niemand im Bundesrat muss der Bevölkerung die Lösung mit Brüssel verkaufen», fasst ein Gesprächspartner zusammen.
Das Problem sei nicht Verhandlungsführerin Leu. Sondern eine völlig zerstrittene Landesregierung. Das habe sich bereits bei Leus Vorgängern Roberto Balzaretti (58) und Pascale Baeriswyl (55) gezeigt, berichten mehrere Leute. «Auch nach zehn Jahren weiss der Bundesrat noch immer nicht, was er eigentlich will.»
Verärgert zeigt sich beispielsweise SP-Nationalrat Eric Nussbaumer (62). «Dass es im wichtigsten Dossier unseres Landes schon wieder zum Personalwechsel kommt, ist ein Debakel», findet der Präsident der Europäischen Bewegung Schweiz. Nun müsse der Bundesrat endlich an den Verhandlungstisch zurückkehren. «Weitere Verzögerungen schaden der Position der Schweiz nur.»
Grosser Respekt
Auch Mitte-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (59), Mitglied der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, hofft vor Leus Abgang einfach auf einen Abschluss der Sondierungsgespräche mit der EU. SVP-Nationalrat Franz Grüter (59) hingegen, Präsident der Kommission, zollt der im September abtretenden Staatssekretärin grossen Respekt für ihre Arbeit: «Wenn Frau Leu gehen will, dann ist jetzt wohl der richtige Zeitpunkt für einen Rücktritt.»
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Leu hat keine Bedenken, dass ihr Abgang die weiteren Gespräche mit Brüssel negativ beeinflussen könnte. Bis zu ihrem Wechsel habe sie noch genügend Zeit, die Sondierungsgespräche zu beenden. «Es hängt nie alles nur an einer Person.» Mit allfälligen Verhandlungen starte eine neue Phase. Da komme es immer wieder zu personellen Wechseln.
Kolportiert wird, dass ein Schweizer Botschafter einer wichtigen Hauptstadt für die Nachfolge infrage komme. Gefallen ist der Name Alexandre Fasel (62), der Botschafter in London war.
Leu bleibt vorsichtig
In einem Interview mit der «NZZ» hatte sich Cassis im Dezember kritisch gezeigt, dass man mit der EU eine mehrheitsfähige Lösung finde. Und auch Leu selbst räumt ein, die Sondierungsgespräche seien kein Spaziergang gewesen. «Da gibt es manchmal harte Diskussionen», so Leu vor den Medien.
Ob aber bis im Sommer 2024 Ergebnisse vorliegen, wie von Brüssel gewünscht, lässt sie offen. Die Verhandlungen könnten jedoch rasch voranschreiten. «Ich bleibe aber immer etwas vorsichtig», so Leu. «Man muss immer offen bleiben. Man weiss nie, was kommt.» Oder wer kommt – und wie lange der Nachfolger oder die Nachfolgerin bleibt.