Wohl noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stand die Arbeit des Bundesrates so im Fokus der Allgemeinheit wie während der Corona-Pandemie. Gleichzeitig droht der gesellschaftliche Zusammenhalt mit der zunehmend aufgeheizten Impf-Debatte Risse zu nehmen.
Entwicklungen, die alt Bundesrat Pascal Couchepin (79) mit Sorge beobachtet. Der ehemalige FDP-Politiker hat sich seit seinem Rücktritt aus dem Bundesrat im Jahr 2009 zwar weitgehend aus der Öffentlichkeit und dem politischen Tagesgeschäft zurückgezogen. Mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Führungspersönlichkeit äussert er sich immer wieder, wenn die Schweizer Politik ins Taumeln gerät. So auch heuer.
«SVP schürt systematisches Misstrauen»
Zum Nationalfeiertag verrät Couchepin, was Schweizerinnen und Schweizer aus seiner Sicht zusammenbringt. «Für mich ist es die politische Diskussion und die Fähigkeit, kontradiktorische Meinungen zu äussern, ohne den anderen als Verräter oder als weniger guten Patrioten zu betrachten», sagt er der «Schweiz am Wochenende» im Interview. Diese Stärke fehle uns momentan aber.
Grund sei, dass die Probleme unserer Zeit komplexer geworden seien. Zusammenhänge zu verstehen sei schwieriger geworden. Eine Tendenz, die von Parteien wie der SVP ausgenutzt würden. «Ihre Lieblingsposition ist: allein gegen die anderen. Wenn man dieses Allein-gegen-die-anderen aber systematisch kultiviert, setzt sich in den Köpfen die Botschaft fest: Die anderen sind Feinde», so Couchepin.
«Unsere Diskussionskultur ist eine Unkultur»
Couchepin nimmt auch den Bundesrat in die Pflicht. «Unsere heutige Diskussionskultur ist eine Unkultur», urteilt er. Der Abbruch der Verhandlungen um das Rahmenabkommen mit der EU sei ein Ausdruck davon.
Er frage sich, ob der Bundesrat auf die Idee gekommen wäre, die Verhandlungen ohne Konsultation des Parlaments und ohne Volksentscheid abzubrechen, wenn wir nicht in einer Zeit des Notstands gewesen wären.
Der alt Bundesrat befürchtet gar eine missbräuchliche Machtergreifung der Landesregierung. Eine so lange Notstandssituation gebe es sonst nur im Krieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es mehrere Volksinitiativen gebraucht, um den Bundesrat zu zwingen, seine Vollmachten abzugeben. «Die Situation erscheint mir heute ähnlich.»
«Das Volk muss wieder entscheiden»
Umgeht der Bundesrat mit seinen Entscheidungen das Volk? Man wage nicht mehr, Entscheide zu treffen. Also verschiebe man sie. Das Wesen der schweizerischen Demokratie sei aber die Konfrontation der Meinungen, ohne den Andersdenkenden zu verunglimpfen.
Das Wesen der schweizerischen Identität sei, kontroverse und zentrale Themen vor das Volk zu bringen und das Volk entscheiden zu lassen. Dazu müsse man wieder den Mut finden. (ste)