Kriminalität bei minderjährigen Flüchtlingen nimmt zu – Jugendstaatsanwalt schildert konkrete Probleme
«Wenn sie auf Medikamenten sind, verlieren sie fast alle Hemmungen»

Die Kantone sind überfordert mit der Unterbringung und Betreuung von minderjährigen Asylsuchenden. Um ihre Sorgen zu vergessen, nehmen einige der Jugendlichen Drogen und werden kriminell. Ein Jugendstaatsanwalt erzählt.
Publiziert: 26.07.2024 um 00:02 Uhr
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Aktualisiert: 28.07.2024 um 10:40 Uhr
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Immer mehr Kinder bitten um Schutz in der Schweiz. Über 3000 unbegleitete Minderjährige haben im vergangenen Jahr ein Asylgesuch gestellt.
Foto: Keystone
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Sophie ReinhardtRedaktorin Politik

Ein 16-jähriger Afghane hat vor einer Woche in Kollbrunn ZH skrupellos die Migros-Filiale überfallen. Ein Video zeigt, wie der Jugendliche auf die Kasse eintritt und einschlägt, während er von der Verkäuferin festgehalten wird. Kurz später wurde er verhaftet und inzwischen in eine geschlossene Einrichtung verlegt.

Blick-Recherchen zeigten, der junge Afghane ist vorläufig in der Schweiz aufgenommen. Er kam als junger Asylsuchender ohne Familie, aber mit Hoffnung im Gepäck in die Schweiz.

Die Zahl von solchen unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden ist in den vergangenen zwei Jahren stark angestiegen. Gut jedes zehnte Asylgesuch stammt inzwischen von einem Minderjährigen, der sich allein auf die Flucht gemacht oder seine Begleiter auf der Flucht verloren hat. Letztes Jahr haben 3271 unbegleitete Minderjährige hierzulande ein Asylgesuch gestellt. Das ist ein neuer Rekord. Zehn Jahre davor waren es noch 350.

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Die Kantone und auch die Justiz haben alle Hände voll zu tun mit der kindgerechten Betreuung minderjähriger Asylsuchender. Sie benötigen Bildung, Integration und Hilfe gegen die Einsamkeit und Heimweh. Die vielen Asylgesuche führen aber dazu, dass die Kantone, die für die Betreuung zuständig sind, dieser Aufgabe nicht immer gerecht werden.

Erst kürzlich zeigte eine Umfrage der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren, dass die Lage angespannt ist. Sechs Kantone teilten mit, bei ihnen sei die Situation kaum bewältigbar, wie die Zeitungen von CH Media kürzlich berichteten. Elf Kantone gaben an, die Lage sei herausfordernd und angespannt. Nur sechs meldeten, dass bei der Unterbringung minderjähriger Asylsuchender alles gut sei.

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Mit Drogen die Ängste betäuben

Mit der steigenden Zahl Asylgesuche steigt auch die Zahl der jugendlichen Asylsuchenden, die kriminell werden. Schweizweite Zahlen dazu gibt es allerdings nicht. Die Baselbieter Jugendanwaltschaft bestätigt aber, dass sie letztes Jahr und diesen Frühling am Anschlag war, wie Lukas Baumgartner (48) sagt. Vor allem jugendliche Asylsuchende aus Maghreb-Staaten seien kriminell aufgefallen, so der stellvertretende Leiter der Behörde. Es habe Wochen gegeben, da habe man bis zu neun Jugendliche in Haft genommen.

In fast allen Fällen sei es dabei um Beschaffungskriminalität gegangen, also etwa Einbrüche in Häuser oder Autos, um mit dem Geld Betäubungsmittel zu kaufen. Nicht wenige der Buben versuchten mit Medikamenten und Drogen, traumatische Erlebnisse zu verdrängen. «Einige haben davon erzählt, was für Erlebnisse sie auch der Flucht gemacht haben, und erzählten von Todesängsten auf Gummibooten im Mittelmeer oder Vergewaltigungen.»

«Wenn sie auf diesen illegal beschafften Medikamenten sind, verlieren die ansonsten gut erzogenen und anständigen Jugendlichen dann fast alle Hemmungen», sagt Baumgartner. Es gebe aber sehr wenig Behandlungsplätze für sie, wo die Sucht dieser jungen Männer, die oft keine Landessprache sprechen, adäquat behandelt werden könnte, so Baumgartner.

Es fehlt an Psychologen

Es mangle im Asylbereich an psychologischer und psychiatrischer Betreuung, heisst es bei der Flüchtlingshilfe. Grund seien unter anderem fehlender Fachärzte. «Dies betrifft vulnerable Personen wie unbegleitete Minderjährige besonders», so Sprecher Lionel Walter.

Inzwischen habe sich die Lage wieder etwa beruhigt, so der Baselbieter Jugendstaatsanwalt. Das habe auch damit zu tun, dass das Staatssekretariat für Migration genauer hinschaue bei der Altersüberprüfung, ist er sich sicher. «Früher kriegten wir auch viele straffällige Kinder und Jugendliche vorgeführt, die ich eher für Mitte 20-Jährige hielt.»

Eine Minderheit macht Probleme

Fast 70 Prozent der unbegleiteten Kinder und Jugendlichen, die 2023 hierzulande ein Asylgesuch stellten, stammen aus Afghanistan.

Ein wichtiger Grund für die hohe Zahl ist, dass Afghanistan zu den Ländern mit den schwierigsten Lebensbedingungen für Kinder gehörte, teilt die Flüchtlingshilfe auf Anfrage von Blick mit. «Kinderarbeit und Zwangsrekrutierung sind weit verbreitet, und viele Kinder haben keinen Zugang zu Bildung. Es gibt eine massive Zunahme von Zwangsheirat und Organhandel.» Seit der Machtübernahme der Taliban habe sich die Situation der Gesamtbevölkerung drastisch verschlechtert.

Jugendanwalt Baumgartner betont, dass nur ein kleiner Teil der unbegleiteten Minderjährigen straffällig wird. Gerade minderjährige Flüchtlinge aus Afghanistan verhielten sich generell sehr vorbildlich, sagt er. «Sie wissen oftmals, dass sie ihre Familie zu Hause nur dann gut unterstützen können, wenn sie sich hier ein gutes Leben aufbauen.»

Und weil vielen Afghanen bewusst ist, dass sich die Situation in ihrer Heimat nicht so schnell verbessern wird, steht für die meisten fest: Sie wollen in der Schweiz bleiben.

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