Tamara Bilen (40) trägt ein Tattoo. Es ist ein Datum: «6. Februar 2023, 2.10 Uhr.» Zu diesem Zeitpunkt verstarb ihr Ehemann im Alter von 50 Jahren an den Folgen von Leberkrebs. Zusammen lebten sie in Eglisau ZH mit vier Kindern im Alter von fünfzehn, zwölf, zehn und sechs Jahren.
Bilen ist gehörlos. Wenn sie spricht, bewegt sie die Lippen und gebärdet mit den Händen. In der Familie funktioniert das bestens. Doch wenn sie zum Arzt muss, hat sie ein Problem.
Vor sieben Jahren ging Bilens ebenfalls gehörloser Mann wegen starker Bauchschmerzen zu seinem Hausarzt.«Die Kommunikation war sehr schwierig, der Arzt hat nichts gefunden», so die Witwe. 2022 verschlechterte sich der Gesundheitszustand ihres Mannes; er musste als Notfall eingeliefert werden. «Erst zu diesem Zeitpunkt wurden seine Beschwerden ernst genommen.» Die Diagnose: Krebs im Endstadium.
Nicht nur um sein Überleben musste der Kranke kämpfen, sondern auch gegen die Bürokratie. Krankenkasse und Spital weigerten sich, einen Gebärdendolmetscher zu bezahlen. «Wir müssen die Ärzte doch verstehen können», sagt Bilen. «Kommunikation ist wichtig für den Heilungserfolg. Ohne Dolmetscher verstehen wir nur einen Bruchteil.»
Ohne Dolmetscher entstehen Mehrkosten
Können sich Gehörlose nicht schriftlich verständigen, etwa mit dem Smartphone? Bilen widerspricht: «Meine Muttersprache ist Gebärdensprache. Beim Lesen und Schreiben entstehen Missverständnisse. Ich zahle jeden Monat Prämien an die Krankenkasse. Ich kann doch erwarten, dafür eine gute gesundheitliche Versorgung zu erhalten.»
Was Bilen besonders ärgert: Immer wieder wurde sie aufgefordert, ihre Kinder sollten übersetzen. Anders als die Eltern können ihre Kinder hören. «Es darf doch nicht sein, dass ein 15-Jähriger medizinisches Vokabular über die tödliche Diagnose seines Vaters übersetzen muss», sagt Bilen. «Das ist für das Kind und die Eltern sehr belastend. Und es ist nicht professionell: Was ist, wenn mein Kind etwas falsch versteht?»
Nach langem Kampf erhielt Bilens Mann schliesslich einen Dolmetscher – doch der Krebs war zu weit fortgeschritten. Der Familienvater starb im Februar 2023. Die Witwe ist überzeugt: «Mein Mann hätte besser behandelt werden können, hätte er von Anfang an einen Dolmetscher an seiner Seite gehabt.»
Deswegen unterstützt Bilen mit dem Schweizerischen Gehörlosenbund eine Motion von FDP-Ständerat Damian Müller (39), der «eine national einheitliche Vergütungspflicht von Dolmetsch-Kosten bei Gesundheitsdienstleistungen» fordert. Damit soll die Verständigung zwischen Patienten und Gesundheitspersonal in Zukunft garantiert werden.
«Es gibt ein Recht auf Gesundheit. Doch dieses Recht wird verletzt, wenn die Patientinnen und Patienten auf einen Dolmetscher angewiesen sind, aber keinen erhalten», so André Marty (32) vom Gehörlosenbund. «Wir gehen von jährlichen Kosten von einer Million Franken für Gehörlose aus. Das kann sich die reiche Schweiz problemlos leisten.» Marty kennt Fälle, in denen falsche Diagnosen zu Folgebehandlungen führten. «Ohne Dolmetscher gibt es Missverständnisse. All das verursacht Mehrkosten, die man sich sparen könnte, wenn man von Anfang an einen Dolmetscher hätte.»
«Niemand fühlt sich verantwortlich»
Der Bundesrat lehnte Müllers Motion ab. Noch unter SP-Gesundheitsminister Alain Berset (51) teilte er mit: «Dolmetschdienste stellen keine Leistungen dar, die der direkten Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen.» Dolmetschdienste könnten jedoch «als Teil der medizinischen Leistung betrachtet werden, wenn sie sich als einzig mögliche Lösung erweisen».
Die Realität sieht anders aus. «Niemand fühlt sich verantwortlich», sagt André Marty vom Gehörlosenbund. «Ärzte wollen die Kosten nicht auf eigene Rechnung bezahlen und Spitäler erhalten für die Patientinnen und Patienten eine Pauschale, die keine Dolmetschkosten enthält. Aber auch die Krankenkassen übernehmen die Kosten nicht. Unter diesem Chaos leiden Gehörlose und deren Gesundheit. Es braucht dringend eine national einheitliche Lösung.»
FDP-Politiker Müller konnte auf den Ständerat zählen, der die Motion im September mit 19 Ja-, 14 Nein-Stimmen und sechs Enthaltungen annahm. Am Donnerstag entscheidet der Nationalrat.
Tamara Bilen appelliert an die neue Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider (60) und das Parlament: «Helfen Sie, dass auch gehörlose Menschen zu ihrem Recht auf Gesundheit kommen.»