Morgens um sieben steigt Nina Ferrer hinunter in ihre Praxis im Souterrain eines Zürcher Wohnhauses. Sie bereitet sich vor, um 8 Uhr kommt die erste Patientin. Dann ist ihr Zeitplan eng: eine Stunde pro Patientin, bis 20 Uhr. Zu Hause muss sie ihre Arbeit protokollieren und an die Ärztekasse weiterleiten. Die stellt die Rechnungen für sie aus. So geht das fünf Tage die Woche, einen davon im Altersheim.
«Ich liebe meinen Job», meint Nina Ferrer. Sie heisst eigentlich anders, aus Angst vor Problemen mit den Krankenkassen will sie anonym bleiben. «Aber 5000 Franken im Monat für eine 60-Stunden-Woche, das ist zu wenig.» Das Problem: Die Tarife sind seit 1998 praktisch gleich geblieben. Dabei sollten die Tarifpartner, Versicherungen und Verbände sie laufend anpassen. Aber: Die werden sich seit Jahren nicht einig.
Der Bundesrat greift ein
Nun mischt der Bundesrat mit. Er hat einen Vorschlag zur Änderung der Tarifstruktur in die Vernehmlassung geschickt. Damit will er aber nicht etwa den Verdienst der Physiotherapeutinnen an die aktuelle Situation anpassen und erhöhen. Sondern: konkrete Sitzungsdauern festlegen. Er erhofft sich davon Einsparungen.
Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch
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Der Hintergrund ist, dass in der ambulanten Physiotherapie die Kosten überproportional gestiegen sind. Grund dafür könnte aus Sicht des Bundesamts für Gesundheit (BAG) sein, dass Sitzungen abgekürzt würden. Denn heute entscheiden Therapeutinnen, wie lange die Sitzung dauert. Verkürzte Sitzungen führten zu mehr Konsultationen und somit höheren Kosten.
Der Vorschlag des Bundesrats sieht eine Mindestdauer für kurze, allgemeine oder aufwendige Physiotherapie von 20, 30 oder 45 Minuten vor. Oder: Eine Mindestdauer von 20 Minuten, die in Fünf-Minuten-Schritten erhöht werden kann.
Ein Vorschlag ins Blaue hinaus?
«Unsere Zahlen zeigen, dass Patienten heute im Schnitt genauso lang behandelt werden wie bei Einführung des Tarifs vor bald 30 Jahren», sagt Florian Kurz, Leiter Kommunikation und Politik beim Verband Physioswiss. Solche Zahlen hat der Bund nicht: Laut dem erläuternden Bericht zur Vernehmlassung habe man keine Daten dazu, wie viele Sitzungen verkürzt würden.
Für die Branche ist der Vorschlag laut Florian Kurz fatal. Die Anforderungen an die Therapeuten hätten zugenommen, und die Kosten für den Praxisbetrieb seien seit 1994 um ein Viertel gestiegen, die Tarife aber kaum. Schon heute seien viele in der Branche an der Existenzgrenze. «Eine Mitgliederbefragung von Ende Oktober zeigte, dass 90 Prozent durch den Tarifeingriff Einbussen befürchten.» Zudem: «Die Gesellschaft altert, chronische Krankheiten nehmen zu, und durch den politisch gewollten Grundsatz ‹ambulant vor stationär› wird die ambulante Physiotherapie der stationären vorgezogen.» Dass die Kosten steigen, sei also kein Wunder.
«Durch Fünf-Minuten-Schritte hätte ich noch mehr administrativen Aufwand, der bereits heute kaum vergütet wird», sagt Nina Ferrer dazu. Lücken bei der Terminplanung seien programmiert. Und: «In 20 Minuten kann ich den Patientinnen nicht gerecht werden.»
Patient Gesundheitswesen
Laut BAG geht es bei der geplanten Anpassung nicht primär ums Sparen, sondern um Transparenz. Die Fünf-Minuten-Schritte sollen die Flexibilität erhöhen. Zudem bestehe keine Verpflichtung zu 20-minütigen Sitzungen. Die Anpassung der Tarife zur Lohnerhöhung sei in erster Linie Aufgabe der Tarifpartner. Also der Versicherer und Verbände. Diese Autonomie wolle der Bund respektieren.
Tausende demonstrieren
Die Vernehmlassung endete am 17. November. Noch am selben Tag demonstrierten auf dem Bundesplatz Tausende gegen die geplante Änderung, und man überreichte der Bundesverwaltung eine Petition mit 283’000 Unterschriften. Am 1. Januar 2025 soll die Verordnung mit der angepassten Tarifstruktur in Kraft treten. Nina Ferrer fragt sich, wie es dann weitergeht: «Hat sich da oben mal jemand die Realität angeschaut?»