Es ist ein Entscheid über Leben und Tod. Steigen die Corona-Zahlen weiter an, kommt der Moment, in dem Schweizer Ärzte bestimmen müssen, wer einen Platz auf der Intensivstation bekommt und wer nicht. «Ich hoffe, wir müssen nicht Triage-Entscheidungen treffen», sagte der Berner Impfchef Gregor Kaczala (46) am Freitag vor den Medien. «Sollte es so sein, befürchte ich schlechtere Karten für Nichtgeimpfte.»
Die Schweizer Spitäler sind bereits wieder am Rande der Belastungsgrenze. Einige mussten schon Patienten in andere Krankenhäuser verlegen. Denn ihre Intensivstationen sind voll. Andere haben erneut damit begonnen, nicht dringende Eingriffe zu verschieben.
Bundesrat warnt vor Überlastung
Nach den neusten Zahlen des Bundes sind die Intensivstationen landesweit zu 80,3 Prozent ausgelastet. Gut ein Drittel der Betten sind mit Corona-Patienten besetzt – fast alle sind sie ungeimpft. Steigen die Zahlen weiter an, drohe eine Überlastung der Spitäler, warnte der Bundesrat am Freitag im Anschluss an ein Treffen mit den Parteispitzen einmal mehr.
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) hat bereits Ende vergangenen Jahres ihre Richtlinien zur Patienten-Triage angepasst. Es soll ein Leitfaden für die Mediziner sein. Damit sie nicht allein entscheiden müssen, wer gerettet wird – und wessen Leben nicht verlängert werden kann.
«Wenn man im Leben A sagt, sagt man auch B»
Höchste Priorität haben dabei Patienten, deren Prognose mit Intensivbehandlung gut, ohne jedoch ungünstig ist. Bei einem akuten Engpass ist es das oberste Ziel, möglichst viele Todesfälle zu vermeiden. «Die Ärzte werden dann zuerst jene behandeln, die die besten Chancen haben zu überleben», stellt der Berner Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg (58) klar. «Das dürften eher die Geimpften sein.»
Der Berner Impfchef und Arzt Kaczala führt aus, dass im Falle einer Triage nicht nur Alter und Gebrechlichkeit Kriterien sein würden. Denn die Patientinnen und Patienten, die nun auf der Intensivstation liegen, seien 20 bis 50 Jahre alt. «Der Impfstatus würde sicher berücksichtigt werden. Wenn man im Leben A sagt, sagt man auch B.»
Noch deutlicher wurde diese Woche die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (44). «Wer Impfgegner ist, der müsste eigentlich eine Patientenverfügung ausfüllen, worin er bestätigt, dass er im Fall einer Covid-Erkrankung keine Spital- und Intensivbehandlung will. Das wäre echte Eigenverantwortung», sagte sie in einem Interview. Und weiter: Ungeimpfte würden das Gesundheitswesen belasten.
Ethikerin warnt
Kommt es also zum Äussersten, sollen dann Geimpfte auf den Intensivstationen Vortritt haben? Ruth Baumann-Hölzle (64) hat grosse Bedenken. «Es wäre ein hoch problematischer Paradigmenwechsel, eine Krankheit plötzlich als Schuld zu qualifizieren», sagt die Medizin-Ethikerin.
Würden Menschen einzig aufgrund einer Impfung als mehr oder weniger lebenswert taxiert, widerspräche dies der humanitären Tradition der Schweiz. «Solche Drohungen könnten auch Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben haben», gibt Baumann-Hölzle zu bedenken.
«Leute müssen verstehen, dass Lage ernst ist»
Schon heute müssten auf den Intensivstationen regelmässig Triagen vorgenommen werden, argumentiert dagegen der Berner SVP-Regierungsrat Schnegg. Wegen der Engpässe müssten bereits jetzt immer wieder Operationen verschoben werden. «Und man kann sich fragen: Ist es korrekt, wenn wir jemandem einen Eingriff verweigern, nur weil wir Platz für einen ungeimpften Covid-Patienten brauchen?»
«Die Leute müssen verstehen, dass die Lage ernst ist», betont Schnegg. «Kein Verständnis habe ich bei jenen, die sich nicht impfen lassen, in die Ferien fliegen, feiern gehen und dann überrascht sind, wenn sie auf der Intensivstation landen. Es gäbe ein einfaches Rezept dagegen: die Impfung!»