«Müsste ich dann Herr Fluss oder Frau Fluss sagen?» Das fragt einer der beiden Rentner am Uferweg launisch zurück, bevor sie nach einem kurzen Wortwechsel auf ihren Elektrovelos davonrauschen.
Fast so, als wollten sie rasch Distanz zwischen sich und diese aufwieglerische Idee bringen: die Reuss mit Persönlichkeitsrechten auszustatten.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Ein Fluss mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und sauberes Wasser? Es ist definitiv kein Thema, das sich so geschwind abhandeln liesse, schon gar nicht am unbeschatteten Wegrand in der Mittagshitze.
Einer will Teil der Lösung sein
Markus Schaerli sitzt auf der Terrasse des Cafés Le Piaf im Kultur- und Kongresszentrum Luzern vor seinem Espresso und blickt zur Schiffländte hinüber. 150 Meter westwärts wälzt sich das Seewasser schweigend unter der Strassenbrücke hindurch in die Reuss – auf der Swisstopo-App erkennbar am leicht dunkleren Blau des Fliessgewässers.
Schaerli engagiert sich seit über 30 Jahren für Tier- und Umweltschutz. Der 69-Jährige lebt vegan und ist seit Jahrzehnten nicht in die Ferien geflogen. Die verbrachte Schaerli meistens samt Hund, Frau und Töchtern in einer Alphütte im Berner Oberland.
Heute sammelt er Regenwasser in Tanks, produziert mit Solarpanels mehr Strom, als er und seine Frau verbrauchen. Die Bäume, die ihr Grundstück beschatten, kühlen den Garten gegenüber der Umgebungstemperatur um gut zwei Grad. Kurz: Schaerli bemüht sich, Teil der Lösung zu sein.
Auf Impuls des Forums für Ethik und Ökologie hat er den Verein Rechtsperson Reuss ins Leben gerufen. Dessen Zweck: nichtmenschlichen Wesen im Kanton Luzern zu einer Rechtspersönlichkeit und zu Grundrechten zu verhelfen. Und als Erstes eben: der Reuss.
Ausgerechnet der Reuss. Im Kanton Luzern sind das 18 Flusskilometer. Auf den ersten beiden ist die Reuss durchgehend eingedämmt, verbaut, begradigt und befestigt. Zudem ein Dutzend Mal von Wehren, Brücken und Stegen durchzogen, überspannt, bezwungen und unterworfen.
Natur findet hier nur in Nischen statt: in den Geranienkisten an der Kapellbrücke und den in regelmässige Abstände gezwungenen Rosskastanien an der Uferpromenade.
Es gibt den einzelnen Schwan, Algen und Seegras am Flussgrund sowie ein paar Fische, die durchs Widerwasser hinter Pfosten und Pfeilern huschen. Der Fluss ist hier vieles: Teil der einstigen Wehranlage, Stromlieferant, Verkehrshindernis – aber keine Person, kein Gegenüber.
Dieses Schicksal teilt die Reuss nicht nur mit den meisten Flussläufen in der dicht besiedelten Schweiz, sondern mit der Natur an sich: Sie wird benutzt, verwertet und verbraucht.
Darin liegt laut Schaerli das Problem, das er beheben will: «Ein wesentlicher Teil unserer Gesellschaft wird als Sache behandelt und nicht als Rechtsperson.» Damit meint er Tiere und Ökosysteme. Und beschreibt nicht nur die Schweiz, sondern den Modus Operandi aller modernen Konsumgesellschaften. Trotzdem – oder gerade deshalb – sind Rechte für die Natur ein Thema, das weltweit an Bedeutung gewinnt.
Neuseeland und Spanien machen es vor
Seit 2009 hat die UN-Vollversammlung neun Resolutionen verabschiedet, die das Ziel verfolgen, «eine nicht menschenzentrierte Beziehung zur Natur» zu entwickeln. Neuseeland hat 2017 den Whanganui-Fluss zur Person erklärt – ihn als unteilbares, lebendiges Wesen anerkannt und ihm entsprechende Rechte zugesprochen. Zwei gewählte Hüter vertreten seither die Interessen des Flusses. Und in Europa wurde mit der Salzwasserlagune von Mar Menor 2022 zum ersten Mal ein Ökosystem als Rechtspersönlichkeit anerkannt. Seither können Bürgerinnen und Bürger in dessen Namen klagen.
In der Schweiz gab es in den vergangenen Jahren mehrere politische Vorstösse, die unseren Gletschern eine Rechtspersönlichkeit verleihen wollten, aber – mit Verweis auf die geltende Rechtsordnung – allesamt abgeschmettert wurden.
Wie blicken wir auf die Welt?
Dieser Rechtsordnung ist ein bestimmtes Weltbild eingeschrieben: der industrielle Fortschritt als Befreiung von der Geissel einer launenhaften Natur. Die Natur als Wildnis mit unerschöpflichen Ressourcen. Ihre Schätze, die es zu erobern, zu beherrschen und auszubeuten gilt. Die Erde, die dem gehört, der sie nimmt.
Doch spätestens mit dem Klimawandel verkehrt sich die Summe dieser zivilisatorischen Errungenschaften in ihr Gegenteil – in Gestalt ökologischer Krisen und meteorologischer Extremereignisse, die uns mit zunehmender Häufigkeit und Härte heimsuchen, lokal wie global. Die Reuss mahnt dieser Tage noch mit hohem Pegelstand an die Hochwasserkatastrophen der vergangenen Wochen, die in den Alpen mehrere Menschenleben forderten. Bei der Autobahnraststätte St. Katharina Süd ist die Wasserlinie ein paar Meter näher an die Terrasse des Migrolino-Restaurants gekrochen. Und auf dem Uferweg zwischen Fluss und Autobahn steht nach den Gewittern der letzten Tage das Wasser an manchen Stellen noch immer knöcheltief.
Respekt vor den Launen des Wassers
Das alles ist noch weit weg von der kritischen Hochwassergrenze, aber nur weil diesmal die kräftigsten Gewitterzellen der Alpensüdseite entlanggeschrammt sind und sich über dem Wallis und dem Tessin ausgeregnet haben.
Aber 2005 richteten Überschwemmungen hier an der Reuss Schäden von über 300 Millionen Franken an. Deshalb plant der Kanton Luzern auf diesem Flussabschnitt umfangreiche Renaturierungen. Das Projekt sieht vor, Ufer und Wasserläufe zwischen Emmen und Honau zu verbreitern, um den Wasserspiegel zu senken. Der Fluss erhält mehr Platz, dafür müssen Infrastruktur und Kulturland weichen. Nicht aus Respekt vor einer künftigen Rechtsperson Reuss zwar, aber immerhin aus Respekt vor ihren Launen. Derzeit sind allerdings noch verschiedene Beschwerden von Grundeigentümern und Umweltverbänden gegen das Projekt hängig.
Empathie für die Umwelt als Motivation
Auch für Schaerlis Initiative wird noch viel Überzeugungsarbeit nötig sein. Den meisten Menschen, die am Ufer der Reuss zugange sind, ist die Idee nichtmenschlicher Rechtspersonen völlig fremd. Kaum jemand hat davon gehört, nicht die beiden Burschen hinter der Strandbeiz-Theke beim Reusszopf, nicht die Hündelerin am hinteren Ende von Lucys Leine.
Die Reaktionen sind breit gestreut, reichen von wohlwollender Neugier («Klingt interessant») über Unverständnis («Wie soll das gehen?») und ehrliche Bedenken («Wenn Flüsse gegen Wasserwerke Einsprachen erheben können, werden wir den Klimawandel nie bewältigen») bis hin zu kalter Desillusion («Irgendjemand wird damit Profit machen»).
Erschwerend kommt hinzu, dass Schaerli nicht nur die Reuss selbst mit Persönlichkeitsrechten ausstatten will, sondern alles, was darin kreucht und fleucht. Im vorgeschlagenen Artikeltext steht unter «Drittens»: «Jede grausame oder erniedrigende Behandlung einer Naturperson in und an der Reuss ist verboten.» Es wäre also vorbei mit dem Fischen. Und am Ufer planschen? Fragen Sie einen Flusskrebs.
Mehr noch: Aktivmitglied im Verein Rechtsperson Reuss kann nur werden, «wer die körperliche Integrität und das Recht auf Leben von nichtmenschlichen Wesen achtet». Das sind hohe Ansprüche in einer Schweiz, in der nur gut fünf Prozent der Bevölkerung vegetarisch leben und nur ein halbes Prozent vegan. Und in einem Kanton, in dem es mehr Mastschweine als Menschen gibt. Grenzt das nicht an Selbstsabotage? «Ich brachte es noch nicht übers Herz, die Passage zu streichen», sagt Schaerli. Denn der Tierschutz ist eigentlich sein grösstes Anliegen. In seiner Bachelorarbeit über nichtmenschliche Naturpersonen befasste sich Schaerli nicht mit den Rechten von Fliessgewässern oder Ökosystemen, sondern mit denen von leidensfähigen Tieren. Als Beispiel für Nichtmenschen führt er darin meistens Schweine an. «Ich verstehe einfach nicht, warum man heute noch etwas essen muss, was leidet, bei all den Alternativen.» Während Schaerli spricht, fährt er sich immer mal wieder mit der Hand übers Gesicht – als müsste er sich die Augen reiben angesichts des wahnwitzigen Treibens seiner Mitmenschen.
Seine Sichtweisen hat er sich nach und nach angeeignet, durch die Betrachtung seiner Umwelt. Als Halbwüchsiger zog Schaerli in eine Wohngemeinschaft in der Abbaye de Fontaine-André, auf einer Waldlichtung oberhalb von Neuenburg, in der Mönche, Studenten und Randständige zusammenlebten.
Auf dem Bauernhof wurden auch Tiere gehalten und gegessen. Der Eber Napoleon landete irgendwann in sauber portionierten und mit «Näppi» beschrifteten Beuteln in der Tiefkühltruhe, zusammen mit Happen von «Käthi», der Geiss. «Das war für mich damals normal.»
Aber das Leben in dieser Gemeinschaft schärfte Schaerlis Sensorium für andere und Schwächere.
Das Wirtschaftsstudium Anfang der 1980er zeigte ihm dann die Grenzen des Kapitalismus und die Systemfehler des Sozialismus auf. «Mir wurde klar: So kann es nicht weitergehen.» Seither ist Schaerli bestrebt, die Verhältnisse zu ändern und derweil ein richtiges Leben im falschen zu leben, so gut es eben geht. Ihn als weltfremden Eiferer abzustempeln, griffe zu kurz. Schaerli ist engagiert, aber nicht getrieben – einer jener beneidenswerten Optimisten, die sich von Missständen motivieren, nicht lähmen lassen. Aber wenn sich wirklich etwas ändern soll, brauche es stärkere Hebel als Natur- und Tierschutz oder Verbandsbeschwerderecht. Deren Wirkmacht sei dem lokalen Zeitgeist und der Realpolitik unterworfen, sagt Schaerli.
Die Schäden mit Steuergeldern lindern
Die Erfahrung gibt ihm recht, gerade im Kanton Luzern. Dieser tut sich notorisch schwer mit dem Umweltschutz, wie das Beispiel des durch die Schweinemast überdüngten und erstickten Baldeggersees zeigt. Seit über 40 Jahren muss das Seewasser künstlich mit Sauerstoff angereichert werden – mit Steuergeldern. Trotzdem gelingt es der Politik nicht, die Tierbestände im Umland auf ein verträgliches Mass zu reduzieren.
Dem Anspruch des Baldeggersees auf ein gesundes Ökosystem stehen die Landwirtschaftslobby, Tausende Arbeitsplätze und Hunderte Millionen Franken Wirtschaftsleistung gegenüber. Und niemand kann dagegen klagen. Nicht der See und auch die Schweine in seiner Umgebung nicht, die in der Blüte ihrer Adoleszenz zu Tausenden verwurstet werden. Mit Persönlichkeitsrechten sähe das anders aus.
Schaerli ist nicht irgendein Politaktivist, er ist Profi. Lange Jahre war er als Wirtschaftsjournalist bei Radio, Print und Fernsehen tätig. Er arbeitete auch in der Kommunikation der UBS – und als Projektleiter für die Justizinitiative. Damals begann er ein Jurastudium, um die Materie besser zu verstehen. Warum hält einer wie er an diesen idealistischen Formulierungen fest, die viele Leute vergraulen dürften?
Es gehe ihm eben um diese Linie, sagt Schaerli – um die Frage, wo die Grenze zwischen Person und Sache verläuft. Und was – oder wer – auf der Seite der Sachen steht. Denn die müssten einfach darauf hoffen, dass sich die Rechtspersonen zu ihren Gunsten einschränken. Freiwillig. Und wie schlecht das funktioniert, zeige eben das Beispiel des Baldeggersees und seiner Schweine. «Auch wir Menschen profitieren davon, wenn der Kreis der Rechtspersonen möglichst weit gefasst ist», sagt Schaerli und wird nachdenklich. In seiner Bachelorarbeit zitiert er Hannah Arendt, die auf die Bedeutung des «Rechts auf Rechte» innerhalb der menschlichen Gemeinschaft hinwies. Und wie verheerend die Konsequenzen sind, wenn dieses Recht abhandenkommt: «Frauen, Juden, Schwarze – sie alle könnten ein Lied davon singen.»
Schaerli fährt sich übers Gesicht. Was er meint, aber nicht sagt: Wer nicht als Rechtsperson gilt, dem droht die Vernichtung – selbst wenn es um Menschen geht. «Und deshalb sollten wir als Gesellschaft diese Grenze so ziehen, dass niemand riskiert, als Sache definiert zu werden.»
Wie beliebig wir Menschen Grenzen ziehen, wird bei Flusskilometer 18 augenfällig, im Schache bei Honau. Nur Weiden und Zäune, Landwirtschaftszone. Das einzige Gebäude weit und breit ist ein Grundwasserpumpwerk. Und ein paar Meter davor, mitten im Fluss, treffen die Kantonsgrenzen von Luzern, Aargau und Zug aufeinander. Würde Schaerlis Initiative angenommen, würden an dieser Stelle Zentimeter über Fluss oder Rechtsperson, über Fisch oder Fischfilet entscheiden.
Selbst Fiktionen haben Rechte
Viele grosse Fragen bleiben offen. Wie liesse sich der Status der Reuss als Rechtsperson überhaupt legitimieren? Die Grundrechte des Menschen beziehen sich auf dessen unantastbare Würde oder darauf, dass er über einen freien Willen verfügt. Einem Tier kann man Empfindungsfähigkeit und einen gewissen Grad an Bewusstsein zugestehen. Aber einem Fluss? Anderseits gelten bei uns selbst Fiktionen wie Firmen und Stiftungen als rechtsfähig. Schaerli winkt ab. Am Ende sei das Ganze eben gar keine moralische Frage, sondern ein demokratischer Entscheid. Und entscheiden werden wir Menschen. Also, diejenigen von uns, die dazu berechtigt sind, im Kanton Luzern. Die Unterschriftensammlung für die Initiative soll nächstes Jahr beginnen.