In Afghanistan gefangen
Das Märchen von der «Flüchtlingswelle»

Seit die Taliban Afghanistan unter Kontrolle gebracht haben, ist bei der SVP die Rede von einer neuen «Flüchtlingswelle». Die Sorge ist unbegründet.
Publiziert: 21.08.2021 um 20:22 Uhr
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Aktualisiert: 21.08.2021 um 23:05 Uhr
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Obwohl die Strassen zwischen dem Iran und der Türkei leer sind und Grenzzäune jeglichen Übertritt verunmöglichen, sieht die SVP in der Krise am Hindukusch eine ­Gefahr – dass die Schweiz in ab­sehbarer Zeit zum «Zielland für Tausende Afghanen» wird.
Foto: keystone-sda.ch
Sven Zaugg

Kaum hatten die Taliban Kabul eingenommen, hoben die ersten Schweizer Politiker den Mahnfinger. Es drohe eine neue «Flüchtlingswelle». Eine Situation wie die «Flüchtlingskrise 2015» dürfe sich nicht wiederholen. Vor allem die SVP sieht in der Krise am Hindukusch eine Gefahr – dass die Schweiz in absehbarer Zeit zum «Zielland für Tausende Afghanen» wird.

Die Sorge ist unberechtigt. Im Staatssekretariat für Migration (SEM) ist man der Auffassung, dass bis jetzt nichts auf eine grössere Migrationsbewegung in Richtung Europa hindeutet. Genau gleich sieht es der Bundesrat.

Scharfe Kritik an der «Angstmacherei der SVP» übt Miriam Behrens, Direktorin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Es entbehre jeglicher Logik, dass die Schweiz in absehbarer Zeit von afghanischen Flüchtlingen überrannt werde: «Afghanistan ist abgeriegelt. Die Menschen können weder vor noch zurück.»

Die tiefste Zahl seit 30 Jahren

Tatsächlich ersuchen immer weniger Afghanen um Asyl in der Schweiz. Waren es im «Flüchtlingssommer» 2015 noch 7831, sank ihre Zahl stetig – auf 1338 im ersten Halbjahr 2021. Und dies, obwohl sich die Sicherheitslage am Hindukusch dramatisch verschlechtert hatte.

Alles in allem liegen heuer bislang 7206 Asylbegehren vor – die tiefste Zahl seit bald 30 Jahren. Dazu Behrens: «Die wenigen Asylgesuche sind alarmierend und zeigen, dass die Flucht vor Krieg oder Verfolgung immer schwieriger wird.»

Die Vereinten Nationen berichten, dass seit Jahresbeginn 551'000 Afghanen ihre Dörfer und Städte wegen Gefechten verlassen hätten, aber im Land blieben. Die meisten Geflüchteten sind gemäss aktuellen Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Pakistan (1,4 Millionen) und Iran (780' 000). Es sind also die Nachbarstaaten Afghanistans, welche die Hauptlast tragen.

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Viele EU-Staaten kontrollieren Grenzen stärker

Der Grund dafür: Der Weg von Afghanistan nach Europa ist weit. Die Hauptroute führt über den Iran, weiter in die Türkei und dann via Balkan in Richtung Mitteleuropa oder per Boot nach Griechenland. Allerdings begannen viele EU-Staaten ab 2015, ihre Grenzen stärker zu kontrollieren und zu sichern, beispielsweise Kroatien, Ungarn oder Österreich.

Griechenland machte seine Grenzen mit Unterstützung der europäischen Grenzagentur Frontex praktisch komplett dicht – und wird von Menschenrechtsorganisationen dafür scharf kritisiert. Nach Informationen des deutschen Magazins «Der Spiegel» erwägt der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis nun sogar die Aussetzung des Asylrechts – eine drastische Massnahme angesichts des Elends im Nahen und Mittleren Osten.

«Und völkerrechtswidrig», ergänzt Flüchtlingshilfe-Direktorin Behrens. «Asylrecht ist kein humanitärer Akt, sondern verbrieftes Recht.» Ein Recht, das vor allem an den EU-Aussengrenzen immer wieder gebrochen wird.

So ist für Hunderttausende Endstation, sobald sie türkischen Boden erreicht haben. Das Land gilt seit 2016 als sicherer Drittstaat.

Hintergrund ist ein Deal mit der EU, aufgrund dessen die Türkei «irreguläre Migranten und Migrantinnen» zurücknimmt, die zu den griechischen Inseln gelangen – und den sich Präsident Recep Tayyip Erdogan mit Milliarden aus EU-Kassen fürstlich bezahlen lässt.

Die Flucht aus Afghanistan ist fast unmöglich

Ohnehin ist die Flucht über Land innerhalb von Tagen unmöglich geworden. Weil die Taliban die wenigen Hauptverkehrsstrassen kontrollieren, ist eine Ausreise aus Afghanistan derzeit fast nur über den Hamid Karzai International Airport möglich. Aber auch dieser Fluchtkorridor ist für die meisten unerreichbar: An Checkpoints rund um den Flughafen lassen sie – wenn überhaupt – nur ausländische Staatsbürger passieren. Und am Gate zu den rettenden Flugzeugen entscheidet das US-Militär, wer durchkommt.

Um dem Terror der selbsternannten Gotteskrieger zu entkommen, sind die Afghanen deshalb auf den Goodwill der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Kanada und Grossbritannien gingen diese Woche voran und garantierten Kontingente von jeweils 20'000 Geflüchteten aus Afghanistan. Gedacht ist dieses «Resettlement-Programm» für Geflüchtete, die unterdessen in Nachbarstaaten angelangt sind.

Die EU-Staaten haben derweil keine Antwort darauf gefunden, was mit Hunderttausenden oder gar Millionen geschehen soll, die vor den Taliban fliehen. Ein EU-Innenminister-Treffen diese Woche blieb ohne konkretes Ergebnis: Man wolle das «humanitäre Engagement» in den Nachbarstaaten Afghanistans intensivieren, hiess es lediglich.

Der politische Wille fehlt

Die Schweiz beschränkt sich derweil aufs absolute Minimum. Der Bundesrat will die afghanischen Mitarbeiter des Deza-Kooperationsbüros und ihre Kernfamilien in der Schweiz aufnehmen. Mit den Schweizer Staatsangehörigen beläuft sich die Gesamtzahl der Personen, die evakuiert werden sollen, auf rund 230.

Dabei habe die Schweiz genügend Spielraum, sagt Flüchtlingshilfe-Direktorin Behrens: «Es braucht neben raschen Evakuierungen und humanitärer Soforthilfe auch Visa-Erleichterungen für afghanische Geflüchtete, beschleunigte Familienzusammenführungen und ein zusätzliches Resettlement-Kontingent für humanitäre Notlagen.»

Für die nächsten zwei Jahre hat der Bundesrat ein Kontingent von 1900 Resettlement-Flüchtenden beschlossen – und zwar schon im Mai, also vor der Afghanistan-Krise. Diese Zahl könnte die Landesregierung nach Rücksprache mit den Kantonen erhöhen. Doch von Visa-Erleichterungen und einer Erhöhung des Kontingents will FDP-Justizministerin Karin Keller-Sutter derzeit nichts wissen. «Die Schweiz kann und will im Moment keine Flüchtlinge aufnehmen», sagte sie am Mittwoch vor den Medien in Bern. Für Miriam Behrens steht fest: «Es fehlt schlicht am politischen Willen.»

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