Impfpflicht-«Fake News»?
SVP pfeift Parteichef Chiesa zurück

Vor wenigen Tagen sprach sich SVP-Präsident Marco Chiesa für eine Impfpflicht fürs Pflegepersonal aus. Nun krebst er zurück – offensichtlich auf Druck der Partei.
Publiziert: 19.11.2021 um 19:32 Uhr
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Aktualisiert: 19.11.2021 um 21:30 Uhr
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Marco Chiesa sprach sich am Dienstag für eine Impfpflicht fürs Gesundheitspersonal aus.
Foto: Keystone
Sermîn Faki

In der SVP muss die Hölle los sein. Losgetreten hat sie der Präsident Marco Chiesa (47) höchstpersönlich. Was ist passiert? Am Dienstag erschien im «Tages-Anzeiger» ein Interview mit dem Parteichef, in dem dieser die Corona-Politik des Bundesrats kritisierte, für ein Nein zum Covid-Gesetz weibelte – und sich überraschend für eine Impfpflicht fürs Pflegepersonal aussprach.

Die Aussage ist klar

«Ich bin gegen eine allgemeine Impfpflicht, aber in Bereichen, die mit vulnerablen Menschen zu tun haben, ergibt eine solche durchaus Sinn», antwortete Chiesa der Journalistin auf die Frage: «Sie wehren sich gegen Druck und Zwang, befürworten aber gleichzeitig eine Impfpflicht beim Pflegepersonal?» Zuvor hatte er gesagt: «Ich bin überrascht, dass sich der Schweizer Berufsverband für Pflegepersonal nicht für eine Impfpflicht ausspricht.»

Kein Wunder, zitierten zahlreiche Medien diese Passage, die Chiesa schriftlich abgesegnet hat, wie der «Tages-Anzeiger» offenlegte. Denn dass der SVP-Präsident der einzigen Partei, die sich gegen das Covid-Zertifikat ausspricht, für eine Impfpflicht plädiert, ist bemerkenswert.

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SVP kritisiert «Fake News» …

Die Einzigen, die das nicht so sehen wollen, sind Chiesas Parteifreunde. Am Freitag verschickte die SVP eine Medienmitteilung, in der sie behauptete, dass die Presse «Fake News» abgedruckt habe: «Sowohl der Tagesanzeiger als auch die NZZ verbreiten die Schlagzeile, dass SVP-Präsident Marco Chiesa die Pflegefachleute zur Impfung verpflichten wolle. Diese Aussage ist falsch», heisst es darin. «Richtig ist, dass Marco Chiesa auf die massiv nachlassende Schutzwirkung der Impfstoffe aufmerksam gemacht hat.»

Richtig an der SVP-Darstellung ist, dass Chiesa die nachlassende Schutzwirkung der Impfstoffe tatsächlich mehrfach nennt. So sagte er beispielsweise: «Zum Beispiel spricht man nicht mehr von Massnahmen wie Masketragen, Distanzhalten und Händewaschen, obwohl alle wissen, dass die Impfung nicht vollständig vor Ansteckungen schützt.»

Oder: «Studien zeigen, dass bei Moderna der Impfschutz nach sieben Monaten bei null liegt, aber das Zertifikat ist immer noch gültig.» Chiesa bezieht sich vermutlich auf die schwedische Studie, die einem mRNA-Impfstoff nach sieben Monaten die Wirkung abspricht – aber nicht jenem von Moderna, sondern dem von Pfizer/Biontech.

… und verbreitet selbst welche

Die SVP-Medienmitteilung, dass sich Marco Chiesa nicht für eine Impfpflicht ausgesprochen habe, ist Unsinn. Wie kommt die SVP hierzu? Nach Ansicht seiner Partei hat Chiesa «deutlich gesagt, dass er gegen eine allgemeine Impfpflicht sei. Für Leute, die mit vulnerablen Menschen zu tun haben, mache eine Impfung aber durchaus Sinn».

Nur stimmt diese Darstellung einfach nicht. Chiesa hat sich nicht für die Impfung ausgesprochen, sondern für die Impfpflicht. Nochmal sein Satz: «Ich bin gegen eine allgemeine Impfpflicht, aber in Bereichen, die mit vulnerablen Menschen zu tun haben, ergibt eine solche durchaus Sinn.»

Offensichtlich ist es nicht so, dass die in den Medien weiterverbreitete Aussage Chiesas nicht stimmt, sondern dass diese der SVP nicht passt. Denn diese vertritt einen völlig anderen Kurs. So ist wohl auch die – verspätete – Reaktion zu verstehen: Chiesa wird so wieder gedrillt.

Chiesa weicht ab – aus gutem Grund

Dabei sollte niemand erstaunt sein, dass Marco Chiesa in der Corona-Politik eine etwas andere Haltung vertritt als die vom Zürcher Flügel dominierte SVP. Der Parteichef ist nicht nur Tessiner und hat als solcher die erste Welle mit all ihrer Wucht erlebt. Er war darüber hinaus auch Altersheim-Leiter.

Chiesa sagte schon im letzten Herbst im Blick: «In den Alters- und Pflegeheimen potenziert sich das Risiko. Hier müssen wir wirklich alle Vorsichtsmassnahmen ergreifen und wenn nötig auch Kontakte einschränken. Denn bei älteren Menschen kann eine Infektion verheerende Auswirkungen haben. Nicht zuletzt geht es auch darum, die Spitäler nicht zu überlasten.»

Doch solche, auf persönlichen Erfahrungen beruhenden Ansichten sind in der SVP tabu. Erst recht nicht zehn Tage vor der Abstimmung über das Covid-Gesetz, das angesichts der fehlenden Klassiker-Themen Migration und Europa die Raison d'être, also die Daseinsberechtigung, der Partei geworden ist.

Jetzt sollen es Tests sein

Da wird der Präsident eben zurückgebunden und muss nun – wenige Tage, nachdem er sich für die Impfpflicht fürs Pflegepersonal ausgesprochen hat – sagen: «Das einzige Mittel, das gerade in Alters- und Pflegeeinrichtungen eine gewisse Sicherheit bringen kann, sind regelmässige Tests.» Wenn es dem Bundesrat und dem Bundesamt für Gesundheit wirklich darum ginge, die Risikogruppen zu schützen, dann würden sie eine Testpflicht für alle verfügen, die in solchen Institutionen arbeiteten. Und sie würden «die Tests – für Geimpfte und Ungeimpfte – wieder kostenlos anbieten».

Das ist die Linie. Wobei sich mehrere SVP-Parlamentarier sogar gegen Tests wehren und eine Testpflicht ablehnen.

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