Seine Samstagvormittage sind ihm heilig. Manchmal, sagt Christoph Berger (59), nehme er das Telefon dann gar nicht erst ab. Und geniesse es, rein gar nichts zu tun – denn so könne er abschalten.
Den Rest der Woche hat Berger kaum Zeit für Entspannung. Der Präsident der Eidgenössischen Impfkommission (Ekif) steht seit Monaten im medialen Scheinwerferlicht. Seinen eigentlichen Job, nämlich die Leitung der Infektiologie am Zürcher Universitäts-Kinderspital, hat Berger über weite Strecken auf Eis gelegt. Abgesehen von der spitalinternen Corona-Taskforce hat er fast alles delegiert, Patienten sieht der Kinderarzt kaum mehr. Zu viel Zeit brauchen das Engagement in der Impfkommission, die ständig wieder neue Empfehlungen erarbeiten muss, und die Medienarbeit.
Intern sei abgemacht worden, dass er zur Corona-Impfung kommuniziere, sagt Berger. Und so ist er das Gesicht der Impfkampagne geworden. Er hat sich mit Verve dahintergeklemmt, die Gemüter zu beruhigen und aufzuklären. «Ich fühle mich für die Impfung verantwortlich», sagt Berger. Es sei ihm wichtig, dass die Ekif-Empfehlungen «verheben». Doch eigentlich sei die Belastung im Moment zu viel für eine Person, und ja, manchmal lasse die Lust daran auch nach, «aber ich bleibe dran». Bei einer nächsten Pandemie brauche es eigentlich einen Stab und «nicht einen, der das nebenbei macht».
Überall offene Mikrofone
Doch dass das Rampenlicht auch etwas für sich hat, gibt Berger unumwunden zu: «Als Experte ist es toll. Als Mensch aber weniger.» Berger präsidiert die Impfkommission seit 2015, doch nie wurde ihm so viel zugehört und so viel Platz eingeräumt wie jetzt. «Das ist schon unglaublich.» Vor Corona hatte er etwa einmal pro Monat mit Medien zu tun, jetzt gibt er manchmal mehrere Interviews an einem Tag.
Nur die Kehrseite der Medaille, wenn es um ihn als Person gehe, die möge er weniger. Das wird auch im Gespräch deutlich. Wenn es um fachliche Fragen geht, scheut der Mann die Konfrontation nicht. Sobald es persönlich wird, gehen die Mauern hoch. Über seine Familie redet der zweifache Vater möglichst wenig, und er habe ihnen auch versprochen, bei den Impfempfehlungen nie Bezug auf sie zu nehmen, sagt er. Inzwischen wird Berger auch auf der Strasse erkannt und angesprochen, bislang seien die Reaktionen aber «ausnahmslos positiv» gewesen.
Für die einen der Giftspritzer, für die anderen der Durchseucher
Doch Berger ist auch mit heftiger Kritik konfrontiert. Vom Impferklärer der Nation ist er in den vergangenen Monaten immer mehr zur umstrittenen Figur geworden. Für die einen ist er ein Giftspritzer, für die anderen ein «Durchseucher», der mit der zurückhaltenden Impfempfehlung für Kinder diese ungeschützt in den Omikron-Sturm schicken will. Mit den Impfskeptikern habe er mehr Mühe, sagt er. Doch auch den Übervorsichtigen rät er, «den roten Faden nicht zu verlieren».
Zum Beispiel beim Booster für Teenager, der im Moment weder zugelassen noch empfohlen ist. «Die Frage ist immer: Was ist das Ziel der Impfung?», so Berger. «Wenn wir Jugendliche boostern, geht es nur darum, dass sie nicht in Isolation oder Quarantäne müssen – denn sie werden selten sehr krank.» Wenn man nicht mehr impfe, weil das medizinisch angezeigt sei, sondern weil es das Leben mit den Corona-Massnahmen einfacher mache, müsse man das ganz grundsätzlich hinterfragen.
Die Impfempfehlung als Tanker
Beim Thema Booster hat Berger seine Meinung auch schon geändert – und sich damit angreifbar gemacht. Noch Ende Oktober gab er im Brustton der Überzeugung zu Protokoll, für die breite Bevölkerung sei die Auffrischimpfung schlicht nicht nötig. Weniger als einen Monat später behauptete er das Gegenteil.
Berger fühlt sich – und die Ekif – bei diesem Thema falsch verstanden. «Wir haben dort die Perspektive der Impfempfehlung geändert: Weg vom Individuum, hin zur gesamtgesellschaftlichen Wirkung auf die Pandemie.» Sprich: Für den Einzelnen war der Booster – damals war die Delta-Variante noch dominant – vielleicht nicht so wichtig. Doch für die Entwicklung der Pandemie spielte die dritte Dosis sehr wohl eine Rolle.
Dieser Perspektivenwechsel habe intern viel zu reden gegeben, sei aber von aussen nicht so wahrgenommen worden. «Rückblickend würde ich das anders machen», gibt Berger zu. «Die Impfempfehlung ist wie ein Tanker, der nur schwerfällig die Richtung ändert» – und das sei eine Kursänderung gewesen.
Ende in Sicht – vierte Impfung auch
Was eine mögliche vierte Impfdosis betrifft, gibt sich Berger denn auch zurückhaltend. Derzeit hält er sie nicht für nötig. Doch er lässt ein Türchen offen, je nachdem, wie sich die Lage entwickelt. «Man vergisst gerne, dass Pandemien nicht eine oder zwei Saisons dauern – sondern vier oder fünf.» Es sei gut möglich, dass ab Sommer keine Einschränkungen mehr nötig seien. Doch dass Senioren oder Menschen mit Immunschwächen im Winter wieder eine Auffrischung benötigen, sei ebenfalls denkbar.
Wird es ruhiger um Corona, wird es auch ruhiger um den Impfexperten Berger. Wird er auch damit umgehen können, wenn plötzlich nicht mehr alle Mikrofone auf ihn gerichtet sind? Berger zögert kurz. Und sagt dann: «Ich glaube schon. Ich mag meinen eigentlichen Job im Spital nämlich. Und ich freue mich, wieder Zeit dafür zu haben.»