IKRK in der Krise – Vorgänger Maurer hat über die Verhältnisse gelebt
Die neue Chefin muss aufräumen

Mirjana Spoljaric Egger muss beim IKRK in Genf für Ordnung sorgen – und vor allem sparen. Interne Dokumente zeigen: Ihr Vorgänger Peter Maurer hat die Mittel der weltweiten Hilfsorganisation zu stark beansprucht.
Publiziert: 09.06.2024 um 01:10 Uhr
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Aktualisiert: 09.06.2024 um 11:40 Uhr
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Mirjana Spoljaric Egger muss beim IKRK in Genf aufräumen.
Foto: Keystone
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Raphael RauchBundeshausredaktor

Worum es geht, wäre eigentlich ganz leicht zu erklären: Leben retten, Not lindern, zwischen Konfliktparteien vermitteln, für das humanitäre Völkerrecht einstehen. Denn dafür steht das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Genf. Doch in der Realität verfolgt IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric Egger (52) eine «Mission Impossible».

Die Schweizer Spitzendiplomatin kann es niemandem recht machen. Für Russland ist sie zu Ukraine-hörig; in Kiew gilt sie als Putin-Versteherin. Israel wirft dem IKRK vor, den Terror der Hamas nicht scharf genug zu verurteilen und zu wenig für die Befreiung der Geiseln des 7. Oktobers zu tun. Die Palästinenser wiederum halten das IKRK für allzu israelfreundlich.

Arabische Kreise werfen dem Komitee vor, dass die israelische Mitgliedsorganisation Magen David Adom zum Selbstschutz teilweise bewaffnet unterwegs ist. Aus IKRK-Sicht ist das prinzipiell ein No-Go, schliesslich ist es die Grundidee des Roten Kreuzes, dass es von allen Konfliktparteien respektiert und nicht angegriffen wird.

Deshalb legt Egger derzeit jedes Wort auf die Goldwaage. Die zweifache Mutter weiss, dass das IKRK-Mandat von Neutralität, Unabhängigkeit und Diskretion lebt. Verliert die Organisation an Vertrauen, erhält sie keinen Zugang mehr zu Gefangenen und Geiseln. In Zeiten von Social Media, wo Statements häufig bewusst missverstanden werden, ist Schweigen Gold. Also schweigt Spoljaric Egger viel.

«Zurück nach Solferino!»

So etwa zum radikalen Sparkurs, den sie seit ihrem Amtsantritt im Oktober 2022 fährt. Das IKRK muss weltweit etwa 1800 Mitarbeiter entlassen und mehr als 400 Millionen Franken einsparen. Insgesamt schliesst das Rote Kreuz 26 Standorte. Welche es sind, will die Zentrale in Genf nicht verraten.

Dort kursiert inzwischen der Slogan: «Zurück nach Solferino!» Damit ist gemeint, zurück zu den Wurzeln: IKRK-Gründer Henry Dunant (1828–1910) hatte sich mit seinem Buch «Eine Erinnerung an Solferino» für die bessere Versorgung verwundeter Soldaten in Kriegszeiten einsetzt und damit den Kernauftrag des IKRK festgelegt.

Fest steht: Die fetten Jahre sind vorbei. Peter Maurer (67), Präsident von 2012 bis 2022, hatte dem IKRK einen starken Wachstumskurs verordnet. Mit Engagements für das Weltwirtschaftsforum in Davos suchte er die Privatwirtschaft zu umgarnen, um so zusätzliche Einnahmen zu erzielen. Stück für Stück dehnte Maurer das IKRK-Mandat aus. Plötzlich ging es nicht nur um Kriegsgefangene, politische Häftlinge und Vermittlung in Bürgerkriegen, sondern auch um Bildung und Klimawandel. Für Aussenstehende war nicht immer klar, was das IKRK von anderen Hilfsorganisationen unterscheidet.

Doch damit ist nun Schluss, denn das IKRK plagen mittlerweile massive Finanzsorgen. SonntagsBlick liegt ein Schreiben aus dem Jahr 2015 vor, in dem Maurer vor den finanziell gefährlichen Folgen seiner Expansionsstrategie gewarnt wurde. Spätestens 2018 war das hausgemachte Desaster absehbar. Dies zeigt ein interner Bericht des Aussendepartements (EDA) in Bern, den SonntagsBlick mithilfe des Öffentlichkeitsgesetzes einsehen konnte: Demnach schrieb das IKRK seit 2018 wachsende Defizite.

«Abzocker beim IKRK»

Dennoch leistete sich das IKRK teure Abgangsentschädigungen für das Spitzenpersonal. So kritisierte etwa der SVP-Nationalrat Mike Egger (31): «Der Generaldirektor Robert Mardini hat Ende März 2024 das IKRK verlassen; trotz einer regulären Kündigung erhält er rund 300'000 Franken Abgangsentschädigung.» Am Montag erhielt Egger eine Antwort des IKRK: «Ab 2024 werden bei der Ernennung neuer Führungskräfte keine spezifischen Abgangsentschädigungen mehr gezahlt. Dies gilt auch für die Position des Generaldirektors und die des neuen Finanzdirektors.» Der Bundesrat begrüsst das, wie er Egger mitteilte.

Maurer will sich nicht zu seinen kostspieligen Hinterlassenschaften äussern. Und Spoljaric Egger möchte ihren Vorgänger nicht öffentlich kritisieren: «Das Wachstum des IKRK geschah nicht um des Wachstums willen, sondern als Reaktion auf den wachsenden humanitären Bedarf», wie ein IKRK-Sprecher betont. Der weltweite Bedarf an humanitärer Hilfe sei seit 2018 aufgrund von weltweit 120 Konflikten massiv gestiegen: «Bewaffnete Konflikte sind häufiger, komplexer und langwieriger geworden.» Weiter teilt der Sprecher mit: «Das IKRK verfügt nicht über genügend Ressourcen, um Millionen von Menschen zu helfen, die aufgrund von bewaffneten Konflikten und Gewalt in Not geraten sind.»

Auf den Kernauftrag konzentrieren

Zugleich bestätigt die Genfer Rotkreuz-Zentrale, sich künftig mehr auf ihren Kernauftrag zu konzentrieren – das humanitäre Völkerrecht. Anders als eine NGO ist das IKRK ein Völkerrechtssubjekt mit Zugang zu Kanälen, die anderen verschlossen bleiben.

«Zurück nach Solferino» bedeutet im Jahr 2024: Hilfe an der Front, Besuch von Gefangenen und Kriegsgefangenen, die Tätigkeit als neutraler Vermittler und den Schutz von Menschen. «Wir werden unsere Programme auf die Bedürfnisse der Menschen zuschneiden, je nachdem, was sie gerade brauchen», teilt das IKRK mit.

Bei der Ukraine-Konferenz nächste Woche auf dem Bürgenstock wird das Komitee übrigens nicht teilnehmen: Das EDA hat seine ehemalige Mitarbeiterin Spoljaric Egger gar nicht erst eingeladen. Offenbar wollte Bern das IKRK nicht in die unangenehme Situation bringen, sich zwischen Kiew und Moskau entscheiden zu müssen.

Die neue Chefin hat schon genügend Baustellen.

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