Erst im Jahr 1976 hat Ignazio Daniele Giovanni Cassis neben seiner italienischen Staatsbürgerschaft auch den Schweizer Pass erhalten. Am Mittwochmittag wurde der 60-Jährige zum Präsidenten der schweizerischen Eidgenossenschaft für das kommende Jahr bestimmt. Glanzvoll war seine Wahl mit 156 von 197 gültigen Stimmen nicht. Ueli Maurer (71) hatte im Dezember 2012 mit 148 Stimmen aber schlechter abgeschnitten und Micheline Calmy-Rey (76) kam zwei Jahre zuvor sogar bloss auf 106 Stimmen.
Noch nie wurde einem Bundesrat die Wahl zum höchsten Schweizer verwehrt. Auch Cassis selbst war sich sicher. Schon am Dienstagnachmittag, mehr als 12 Stunden vor der Wahl, bedankte er sich auf seiner Website für die «grosse Ehre» Bundespräsident zu sein.
Bundespräsident mit Migrationshintergrund
Der neue Präsident repräsentiert mit seinen italienischen Wurzeln die rund 2,77 Millionen Schweizerinnen und Schweizer im Alter von 15 Jahren und mehr, die ebenfalls über einen Migrationshintergrund verfügen. Von diesen besitzt nur etwa eine Million die Schweizer Staatsbürgerschaft.
In unserem Land sind etwa 999'000 Menschen Doppelbürgerinnen oder -bürger. Ignazio Cassis nicht mehr. Für seine Kandidatur hat der damalige FDP-Nationalrat 2017 freiwillig auf seinen italienischen Pass verzichtet.
Es ist zwar unwahrscheinlich, dass der Tessiner nicht zum Nachfolger von Didier Burkhalter (61, FDP) in die Regierung gewählt worden wäre, hätte er wie so viele im Land neben dem roten Pass noch einen italienischen besessen. Doch geschadet hat ihm der Verzicht auch nicht.
Der Anti-Teflon
Heftig war jedoch die Kritik daran, dass Cassis im September 2017 noch extra Mitglied im Waffenlobby-Verein Pro Tell wurde. So heftig, dass er nach einem Monat wieder austrat.
Die kleine Anekdote sagt mehr über den Bundespräsidenten aus, als ihm lieb sein dürfte. Sie zeigt: Er ist kein Mann des treffsicheren Instinkts. Und er ist keiner, an dem Kritik abperlt wie an einer mit Nanopartikeln versiegelten Scheibe.
An Cassis bleibt alles kleben: Er war es, der vor seiner Wahl in den Bundesrat als Teilzeit-Curafutura-Präsident 180'000 Franken verdiente. Ihn kanzelte der frühere SP-Präsident Christian Levrat (51) als «Praktikanten» ab. Cassis war es auch, der nach drei Monaten als Aussenminister in Bellinzona Bauklötzchen stapelte. Er ist der, der nach dem «Reset-Knopf» in den Verhandlungen mit der EU suchte und ihn nie fand. Und er gilt als derjenige, der erst nicht nach Brüssel durfte und sich, als man ihn doch liess, vom Brüssler Kommissar Maros Sefcovic (55) ein Ultimatum stellen liess. All das hat man vor Augen, wenn man an Cassis denkt. Er hat nunmal keine Teflon-Haut.
Die Corona-Krise half ihm nicht
Als Aussenminister blieb Cassis blass. Parlamentarier kritisieren den Stillstand in den Verhandlungen mit der EU, wie auch den fehlenden Plan B nach der Beerdigung des Rahmenabkommens. Cassis müsse «mehr nach Brüssel und weniger nach China reisen», sagt Mitte-Fraktionschef Philipp Matthias Bregy (43).
Sicher, die Corona-Krise hat es Cassis nicht leicht gemacht zu glänzen. Aussenpolitik war kaum gefragt, Reisen fanden nicht statt. Doch abgesehen von der Rückhol-Aktion für die im Ausland gestrandeten Schweizerinnen und Schweizer Anfang 2020 schaffte es der einzige Mediziner in der Landesregierung nicht, in der Bewältigung der Pandemie Akzente zu setzen.
Imagepolitur
Dass der Bundesratssitz von Cassis wackelt, erstaunt daher nicht. Legen die Ökoparteien weiter zu und hält sich die SP bei den Wahlen 2023, wird es eng für den Freisinn. Für Cassis, um präzis zu sein. Denn neben der stets souveränen FDP-Bundesratskollegin Karin Keller-Sutter (57) wirkt der Tessiner unbeholfen. So schnell wird zwar kein Bundesrat aus dem Amt gehievt, doch auf die Abwahlen Ruth Metzlers (57) und Christoph Blochers (81) hätte vor dem Wahltag auch niemand gewettet.
Angesichts dieser Ausgangslage wird Cassis den Glanz des Präsidialjahres nutzen wollen, um sein Image aufzupolieren. Und dass man genau dann, wenn die Öffentlichkeit nicht zu viel vom neuen Bundespräsidenten erwartet, positiv überraschen kann, hat der abtretende Präsident Guy Parmelin (62) vorgemacht. Als Landesvater in der Corona-Krise ebenso wie als Gastgeber eines historischen Gipfels zwischen den Grossmächten Russland und USA.
«Es wird kein Kindergeburtstag»
Von Cassis wird unter der Bundeshauskuppel nicht viel erwartet. Dabei seien die Herausforderungen gross: Er müsse das wegen Corona gespaltene Land wieder zusammenführen, sagen die einen. Es müsse ihm gelingen, die Pandemie so in den Griff zu bekommen, dass ab Sommer wieder Normalität einzieht, sagen die anderen. Und vor allem müsse er endlich das EU-Dossier vorantreiben, sagen Dritte.
Für Cassis ist das Präsidialjahr eine Chance. «Aber es wird kein Kindergeburtstag», prognostiziert Mitte-Mann Bregy. Und im Gegensatz zum neuen Bundespräsidenten hat der Walliser einen ausgezeichneten politischen Instinkt.