Der Schweiz gehen die Medikamente aus. Bei 126 lebenswichtigen Arzneimitteln und Impfstoffen zehren die Apotheken momentan vom Notvorrat des Bundes. Doch dieser könnte bald aufgebraucht sein. Aktuell seien besonders die Bestände der Pflichtlager von Antibiotika, Opioiden und Impfstoffen tief, schreibt das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung auf Blick-Anfrage.
Enea Martinelli (57) bereitet das grosse Sorgen. Der Spitalapotheker ist Vizepräsident des Apothekerverbands Pharmasuisse. Im Herbst, spätestens im Winter – wenn Infektionskrankheiten Hochsaison haben – dürften die Pflichtlager bei einigen wichtigen Arzneimitteln aufgebraucht sein, sagt er.
Wie schlimm ist die Lage?
«Dass so viele Präparate über einen so langen Zeitraum fehlen, gabs noch nie», sagt Martinelli. Schlimmer als aktuell könne die Lage gar nicht mehr werden. Vom Cholesterinsenker bis zum Hustensaft: Über 700 verschreibungspflichtige Medikamente sind in der Schweiz derzeit nicht mehr lieferbar. Bei einigen lebenswichtigen Arzneimitteln rechnet der Bund damit, dass sie erst nächstes Jahr wieder verfügbar sind. Betroffen sind Antibiotika, Schmerzmittel, Medikamente für Epileptikerinnen und Parkinson-Patienten, aber auch Psychopharmaka.
Was bedeutet das für Patientinnen und Patienten?
Besonders chronisch Kranke und Kinder leiden unter dem Medikamentenmangel. Denn wer schon lange ein Medikament einnimmt, kann meist nicht einfach so zu einem alternativen Präparat wechseln. Dass gerade auch viele Medikamente für Kinder fehlen wie Hustensirup, habe wohl unter anderem damit zu tun, dass die Nachfrage nach der Pandemie gestiegen sei, sagt Susanne Gedamke (37) von der Patientenorganisation SPO.
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Wo liegt das Problem?
Versorgungsengpässe bei Medikamenten sind seit Jahren ein Problem – nicht nur in der Schweiz. Doch die Corona-Pandemie hat die Lage noch einmal massiv verschärft. Es bestehen zwar mehrere Gründe für die Knappheit, doch oft sind sie wirtschaftlicher Natur. Beispielsweise kann es sein, dass es sich nur noch für wenige Herstelle lohnt, einen Wirkstoff zu produzieren. Fallen diese aus, fällt die ganze Lieferkette zusammen. Die Produktion von Medikamenten, deren Patent abgelaufen ist, rechnet sich für Pharmafirmen zudem oft finanziell nicht mehr. Aktuell verschärft der Krieg in der Ukraine die Situation, denn Glasfläschchen für Medikamente werden vor allem in der Ukraine hergestellt. Bei Antibiotika liege die Ursache für die Lieferschwierigkeiten jedoch beim starken Anstieg der Nachfrage, teilt Novartis-Tochter Sandoz mit.
Was tut der Bund?
Der Bund hat Anfang Jahr eine Taskforce ins Leben gerufen, die einige Sofortmassnahmen aufgegleist hat. So sind Apotheken beispielsweise dazu angehalten, mal auch nur eine halbe Packung eines Medikaments abzugeben, damit mehrere Patienten von einer Schachtel profitieren können. Und es wurden bürokratische Hürden abgebaut. «Doch das alles packt das Übel nicht an der Wurzel», kritisiert Pharmasuisse-Vize Martinelli. Weitere Massnahmen prüfen die Behörden zwar. Bis wirklich etwas geht, dauert es aber: Erst im Frühling nächsten Jahres soll ein Bericht vorliegen, der dem Bundesrat aufzeigt, was getan werden könnte.
Reicht das?
Nein, findet Martinelli. Er fürchtet, dass den Worten am Ende kaum Taten folgen. Darum machen Apotheken, Patientenorganisationen und weitere Verbände mit einer Initiative Druck. Die Versorgungssicherheits-Initiative fordert unter anderem, dass künftig mehr Kompetenzen beim Bund gebündelt werden. «Wir brauchen in der Schweiz ausserdem die Kapazitäten, um in Notfällen kurzfristig Tabletten oder Ampullen selbst herstellen zu können», sagt Martinelli.
Die Initianten haben noch über ein Jahr Zeit, die nötigen 100'000 Unterschriften zusammenzubekommen. Wenn die Unterschriftsbögen in den Apotheken aufliegen, dürften sie sich angesichts der Knappheit jedoch zügig füllen.