Noch zwei Wochen, dann steht der erste grosse Test für die eidgenössischen Wahlen am 22. Oktober an: die Wahlen im Kanton Zürich. Grünen-Chef Balthasar Glättli (50) steht als der grosse Wahlgewinner von 2019 besonders unter Druck. Davon merkt man allerdings wenig, als Blick Glättli in einem Lokal im Zürcher Kreis 4 trifft.
Blick: Herr Glättli, das Wahljahr hat für die Grünen gut angefangen: Dank der Corona-Leaks um Alain Berset sind Ihre Chancen gestiegen, Ende Jahr einen Bundesrat zu stellen.
Balthasar Glättli: Zynismus ist kaum die richtige Reaktion auf eine solche Erschütterung der Institutionen. Ich hoffe einfach, dass alle Bundesratsparteien irgendwann merken – und ihren Bundesräten das auch sagen –, dass die Regierung funktionieren muss. Denn an Krisen, die es zu meistern gilt, haben wir nun wirklich keinen Mangel.
Jetzt sind Sie schön ausgewichen. Ist Alain Berset noch tragbar?
Sein Job ist sicher nicht einfacher geworden. Aber lassen wir die Geschäftsprüfungskommissionen ihre Arbeit machen. Selbst die SVP, die Alain Bersets Rücktritt fordert, sagt ja, jetzt müsse aufgeklärt werden. Warum? Weil wir nicht wissen, was genau passiert ist. Konsequenzen können wir ziehen, wenn Klarheit herrscht.
Treten die Grünen im Dezember in jedem Fall zur Bundesratswahl an – auch auf Kosten der SP?
Wir wollen in den Bundesrat. Und das Argument, unser Erfolg sei eine Eintagsfliege, gilt nicht mehr. Wir werden auch nach den Wahlen keine Fünf-Prozent-Partei sein, die man in die zweite Reihe stellen kann. Wenn wir bei den Wahlen ein zweistelliges Resultat erzielen, treten wir an und fordern, dass die anderen Parteien unsere Kandidatur, anders als 2019 die meisten, ernst nehmen. Alle wesentlichen Kräfte sollten im Bundesrat vertreten sein – und dazu gehören auch wir.
Mitten in der Corona-Pandemie wählten die Grünen den Zürcher Balthasar Glättli (50) zum Präsidenten. Zuvor leitete der Nationalrat sieben Jahre lang die Bundeshausfraktion der Partei. Glättli ist mit der SP-Nationalrätin Min Li Marti (48) verheiratet, das Paar hat eine Tochter.
Mitten in der Corona-Pandemie wählten die Grünen den Zürcher Balthasar Glättli (50) zum Präsidenten. Zuvor leitete der Nationalrat sieben Jahre lang die Bundeshausfraktion der Partei. Glättli ist mit der SP-Nationalrätin Min Li Marti (48) verheiratet, das Paar hat eine Tochter.
Die Wahlumfragen lassen allerdings befürchten, dass die Grünen verlieren.
Selbst wenn die Umfragen stimmen sollten, muss man uns zugestehen: Die Grünen sind in der ersten Liga der Parteien angekommen. Und wir haben mehr Anrecht auf einen Bundesratssitz als die FDP auf deren zwei. Unser Ziel ist aber, nach SVP und SP drittstärkste Kraft zu werden.
Ambitioniert. Im Moment sieht es eher danach aus, als wäre GLP-Chef Jürg Grossen der grosse Sieger.
Abgerechnet wird am Wahltag. Die Wahlergebnisse zählen, nicht die Umfragen. In den kantonalen Wahlen haben wir seit 2019 am meisten Sitze gewonnen. Am liebsten wäre mir, wenn wir Grünen, aber auch die SP und die GLP zulegen. So würde eine Klimaallianz möglich! Was diese bewirken kann, zeigt der Kanton Zürich. Dort hat unser grüner Energiedirektor Martin Neukom ein Energiegesetz gezimmert, das in jedem Bezirk eine Mehrheit an der Urne bekommen hat – auch in den SVP-dominierten. Doch dafür muss die Allianz gestärkt werden – am 12. Februar in Zürich und am 22. Oktober bei den nationalen Wahlen. Insofern: Jedem, der nicht freisinnig wählt, sondern grünliberal, dem sage ich: Bravo! Noch viel besser wäre es natürlich, grün zu wählen (lacht).
Die Diskussion entwickelt sich angesichts der Versorgungssicherheit und hoher Preise gegen die Klimaallianz. Mit SVP-Bundesrat Albert Rösti kommt zudem die AKW-Frage wieder auf.
Man merkt, Albert Rösti versucht, die SVP-Agenda in der Schweizer Energiepolitik zu verankern – obwohl die Stimmbevölkerung mit der Energiestrategie klargemacht hat, dass sie das nicht will. Es lässt tief blicken, dass er von einem «stark diskutierten» Klimawandel spricht, der «als höchstes Problem genannt» würde. Ich erwarte von einem Bundesrat, dass er Fakten wie den Klimawandel nicht anzweifelt. Sondern Lösungen für das in der Tat grösste Problem der Menschheit findet.
An welche Lösungen denken Sie?
Die günstigste, schnellste und wirkungsvollste Lösung ist, die Stromverschwendung zu stoppen: Wenn wir effizienter werden, können wir 40 Prozent des Stromverbrauchs einsparen. Das entspricht der Produktion aller Schweizer AKWs. Die Kosten für Effizienz-Programme betragen einen Bruchteil der Kosten für die Solaroffensive in den Alpen. Vor allem sind sie viel billiger als irgendwelche Atom-Träume. Konkret: Gäbe man 500 Millionen Franken aus, um bei allen alten Industriemotoren Frequenzumrichter zur Regelung der Leistung einzubauen, sparte man drei Terawattstunden Strom. Für weniger als zehn Millionen Franken kann man jedem Haushalt einen Durchflussregler für die Dusche schicken. Den kann jeder einfach in seinen Duschkopf einschrauben. Effekt: 50 Prozent weniger Warmwasserverbrauch – ohne Verzicht!
Dagegen hätte Rösti sicher nichts.
Das soll er es beweisen, statt seine AKW-Faszination auszuleben. Die erste Nagelprobe steht uns im Sommer mit der Abstimmung übers Klimaschutzgesetz bevor. Ich erwarte von Bundesrat Rösti, dass er sich voller Kraft für dieses Gesetz einsetzt.
Wollen Sie jetzt nicht einfach davon ablenken, dass es bei den Grünen einen Konflikt zwischen Klimaschutz und Landschaftsschutz gibt?
Wir sind für den Ausbau der neuen erneuerbaren Energien. Wir haben das bewiesen: Ohne die Grünen gäbe es seit dem ersten Januar 2023 keine Förderung von Solarstrom mehr! Wir fordern eine Solardach-Pflicht. Und wir sind dafür, alpine Solaranlagen zu bauen. Aber: Diese Anlagen sollten in der Nähe von bestehenden Infrastrukturen stehen und nicht in hochalpinen Schutzgebieten.
Aus der Sicht vieler hintertreiben die Grünen die Solaroffensive so aber!
Wenn die Stromleitungen bereits stehen, steht uns der Solarstrom viel rascher zur Verfügung, als wenn diese erst gezogen werden müssen. Es macht auch aus Sicht der Dringlichkeit keinen Sinn, unerschlossene Schutzgebiete zu zerstören.
Am Samstag stimmen die Grünen über ihr Wahlprogramm ab. Dazu gingen von der Basis 1200 Vorschläge ein. Welche haben Sie am meisten überrascht?
Was mich beeindruckt hat, ist, wie tief unsere Mitglieder in der Materie sind. Die Vorschläge waren zum Teil sehr detailliert – so dass es recht schwierig war, sie in eine allgemeine Agenda zu pressen.
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Und thematisch?
Wir widmen der Inklusion von Menschen mit Behinderung jetzt ein eigenes Kapitel, weil das stark eingefordert wurde. Offenbar ist das Bewusstsein, dass wir eine diverse Gesellschaft sind, bei unserer Basis noch stärker verankert als in der Parteispitze. Das gilt auch für andere Themen wie das Flugverbot für Inland- und Kurzstreckenflüge. Wir hätten das weniger absolut formuliert als die Basis, um nicht als Verbotspartei zu gelten (lacht). Jetzt aber vertreten wir das gerne so. Im einen oder anderen Punkt wird es am Samstag aber sicher Diskussionen geben.
Beim Flugverbot?
Das dürfte schlank durchgehen. Diskussionen erwarte ich aber bei der Europa-Initiative, die wir zusammen mit Operation Libero lancieren wollen. Wir haben auch gewerkschaftlich geprägte Mitglieder, die wenig Freude daran haben, dass wir den Bundesrat zwingen möchten, die Europa-Frage endlich zu lösen. Obwohl gerade der Lohnschutz mit dem Initiativtext im Vergleich zu heute gestärkt und in der Verfassung verankert würde.
Die Initiative ist Augenwischerei! Man fordert einfach, dass der Bundesrat etwas macht. Was, ist egal.
Nein, wir fokussieren uns auf das Wesentliche: den Inhalt! Wichtig ist, dass die bilateralen Beziehungen gesichert und eine Grundlage für neue Abkommen geschaffen wird. Ob das mit einem EU- oder EWR-Beitritt oder – aus meiner Sicht realistischer – mit einem Rahmenabkommen 2.0 gemacht wird, ist nicht entscheidend. Wir müssen verhindern, dass wir im Forschungs- und Innovationsbereich nicht noch mehr abgehängt werden. Wir brauchen die Vernetzung der Hochschulen, deshalb unterstützt der Verband der Studierenden die Initiative. In vielen Bereichen – Klimaschutz, Datenschutz, Regulierung von künstlicher Intelligenz – ist die EU führend. Das ist doch eine Chance! Es braucht jetzt Druck von unten auf den Bundesrat!