Die Schweiz wächst. Über 80'000 Menschen netto wanderten letztes Jahr ein. Auch einen leichten Geburtenüberschuss verzeichnet das Land, sodass die ständige Wohnbevölkerung per Ende 2022 auf über 8,8 Millionen Menschen gewachsen sein dürfte. Die Schweiz kratzt damit an der 9-Millionen-Hürde. Bis 2050 dürfte die Bevölkerung sogar auf 10,4 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner steigen, schätzt der Bund.
Die SVP fürchtet gar, dass es viel schneller geht. Die Zuwanderungspolitik wird ihr grosses Wahlkampfthema. Noch dieses Jahr will sie eine Volksinitiative lancieren, um die Zuwanderung zu bremsen. «Wir müssen uns fragen, ob wir in einer 10-Millionen-Schweiz leben wollen. Ich sicher nicht!», sagte SVP-Chef Marco Chiesa (48) jüngst im Blick-Interview.
«Verteilkämpfe verhindern»
Die 10-Millionen-Schweiz treibt auch GLP-Nationalrätin Judith Bellaiche (52, ZH) um. Nur stellt sie die Frage anders: «Wir müssen uns nicht fragen ‹ob›, sondern ‹wie› wir in einer 10-Millionen-Schweiz leben wollen», sagt sie zu Blick. Sie ärgert sich darüber, dass die Bevölkerungsdebatte dafür genutzt werde, um «übertriebene Darstellungen zu verbreiten und Ängste zu schüren».
Für sie ist nämlich klar: «Eine lebenswerte 10-Millionen-Schweiz ist möglich.» Dafür brauche es aber eine vorausschauende Planung. «Was den sozialen Frieden hierzulande nämlich gefährdet, sind Verteilkämpfe – um den Platz in der Wohnung, um den Platz im Zug, um den Platz im Spital.» Deshalb müssten solche Verteilkämpfe proaktiv verhindert werden.
Das Wahlkampfjahr 2023
Will heissen: Wenn die Bevölkerung wächst, dann braucht es auch mehr Wohnraum, mehr öffentlichen Verkehr, mehr Energie, mehr Spitäler, mehr Schulen – von allem nicht nur mehr, «sondern auch besser», betont Bellaiche. Ein Wachstum, vor welchem sich die Grünliberale denn auch keineswegs fürchtet: «Ausschlaggebend ist, dass wir die notwendigen Massnahmen sauber planen und bedarfsgerecht umsetzen.»
Bundesrat ohne Zukunftsvision?
Hier will sie den Bundesrat mit einem neuen Vorstoss in die Pflicht nehmen. Die Regierung soll aufzeigen, wie das Bevölkerungswachstum bewältigt werden kann. Das könne beispielsweise in der Raumplanung sein, wo definiert werden müsste, in welchen Regionen das Wachstum stattfinden soll, so die Zürcherin. «Sind es die urbanen Gebiete, wo wir mehr in die Höhe bauen sollen und wo es mehr Mobilität braucht? Oder wohl kaum weiter in die Breite?»
Was Bellaiche erstaunt: «Dem Bundesrat fehlt derzeit eine Zukunftsvision, wie die Schweiz aussehen soll.» Anstatt Leadership zu zeigen, schaue er weg und stolpere er von Problem zu Problem. «Die Schweiz lässt sich vom Wahlkampfgedöns der SVP ins Bockshorn jagen.»
Know-how als wichtigste Ressource
Die Zahl der Menschen sei nicht entscheidend. Problematisch sei eine 10-Millionen-Schweiz nur, wenn man es versäume, die Versorgung und Infrastruktur entsprechend anzupassen. Der Wirtschaftsstandort Schweiz sei auf die Zuwanderung angewiesen. «Das Know-how der Menschen ist unsere wichtigste Ressource und sorgt für unseren Wohlstand», sagt Bellaiche. «Es gibt Grund genug, eine 10-Millionen-Schweiz in ein positives Licht zu stellen.»