Vom südlichsten Zipfel des Tessins ins Zentrum der politischen Macht. Mit der Wahl in den Nationalrat vergangenen Herbst ist für Giorgio Fonio (39) ein Traum in Erfüllung gegangen. Ein Traum, den er lange nicht zu träumen gewagt hat.
Denn der Mitte-Politiker aus Chiasso TI hat eine bewegte Vergangenheit hinter sich. Er wuchs in sehr schwierigen Verhältnissen auf, lebte ab dem zehnten Lebensjahr bis zum 18. Geburtstag im Kinderheim. Seine Mutter, alleinerziehend, starb, als er ein Teenager war. Vieles, was damals geschehen ist, habe er aus Selbstschutz verdrängt, sagt Giorgio Fonio rückblickend.
Er kämpfte für die 13. AHV
Doch das Erlebte hat ihn geprägt. Der Tessiner ist der wohl linkste Bürgerliche im Parlament – ein Exot im «Centro», wie die Mitte in seiner Heimat heisst. Als Regionalsekretär der grössten Tessiner Gewerkschaft OCST kämpft er für faire Löhne und Arbeitsbedingungen. In jüngster Vergangenheit fiel Fonio auf, weil er sich als einziger Mitte-Parlamentarier – gegen die offizielle Parteiparole – öffentlich für eine 13. AHV-Rente starkmachte. Seine linken Positionen haben ihm innerhalb der Mitte-Fraktion bereits einen Spitznamen eingebracht: der Kommunist.
Darauf angesprochen, muss Fonio schmunzeln. «Ich will Politik machen für die Menschen. Das ist mein Antrieb», sagt der Gewerkschafter. Für ihn stehen jene im Mittelpunkt, die – wie er einst – weniger privilegiert sind. Auf die Frage, ob er denn nicht in einer Partei wie der SP besser aufgehoben wäre, winkt er entschlossen ab: «Ich bin am richtigen Ort. Ich fühle mich in der Mitte daheim.» Verantwortung und Solidarität seien schliesslich auch Werte der Mitte. «Für mich steht zudem, wie bei der Mitte, die Familie im Zentrum.» Fonio, der in seiner Freizeit als Fussball- und Hockey-Schiedsrichter tätig ist, ist verheiratet und hat vier Kinder im Alter von 3 bis 10 Jahren.
«Hey, ich bin Giorgio»
Zur Politik hat Giorgio Fonio praktisch auf dem Vorbeigehen gefunden – als Jugendlicher auf dem Schulweg in Bellinzona. Zwischen Kinderheim und Schule lag die Redaktion der Lokalzeitung «La Regione». Fonio fischte jeweils eine der nicht ganz sauber gedruckten Exemplare aus dem Altpapier – las und begann so, sich für politische Themen zu interessieren. «Während meine Kollegen Ronaldo anhimmelten, war mein Vorbild der damalige Tessiner Mitte-Staatsrat Alex Pedrazzini», erinnert sich der Politiker.
Er habe sämtliche Parteiprogramme studiert, und schliesslich bei der Jungen CVP des Kantons Tessin angerufen. «Ich habe gesagt: ‹Hey, ich bin Giorgio. Ich stehe zur Verfügung.›» Von da an engagierte er sich politisch, 2015 wurde er für die Partei in den Tessiner Grossen Rat gewählt. Vier Jahre später folgte ihm Bruder Stefano Tonini (32) ins Kantonsparlament. Die Geschwister ticken politisch ganz und gar nicht gleich: Tonini politisiert für die rechte Lega.
Inzwischen ist dieser Gemeinderat in Chiasso – und Fonio einer von 200 Nationalrätinnen und Nationalräten in Bern. «Ich bin dem Leben dankbar für das, was es mir trotz aller Schwierigkeiten gegeben hat», sagt Fonio. Darüber, was das Leben noch bringen wird, will er sich derweil keine Gedanken machen. «Wenn man so aufgewachsen ist wie ich, denkt man nicht so sehr an die Zukunft. Sondern ist dankbar für jeden guten Tag.»