Auf einen Blick
Am Mittwochmorgen des 30. Oktober 2024 um 9.05 Uhr hob der Sonderflug der Helvetic Airways Richtung Polen ab. Erstmals seit Kriegsbeginn schob die Schweiz drei straffällige Ukrainer ab. Dass den drei Männern nun der Wehrdienst drohe, sei selbstverschuldet, sagte der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr gegenüber der «NZZ», die die Ausschaffung publik machte.
Recherchen des Beobachters zeigen nun: Einer der drei Männer lebte seit seinem elften Lebensjahr mit einer B-Bewilligung in der Schweiz. 2016 schlug der suchtkranke Mann einen anderen Mann nieder, um ihm 20 Franken zu stehlen. Das Bezirksgericht Zürich qualifizierte das als Raub, verurteilte ihn auch wegen anderer, geringfügiger Delikte wie Hausfriedensbruch und Nötigung zu 26 Monaten Freiheitsstrafe und sprach – wegen des Raubs – einen Landesverweis von acht Jahren aus.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Urteil vor Ausbruch des Krieges
Das Zürcher Obergericht bestätigte das Urteil, reduzierte die Strafe aber auf 20 Monate und den Landesverweis auf fünf Jahre. Das Bundesgericht wies eine Beschwerde gegen den Landesverweis ab.
Das Urteil wurde im Jahr 2020 rechtskräftig, rund zwei Jahre vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Die Ausschaffung wurde zugunsten einer stationären Therapie in einer Suchtfachklinik aufgeschoben. Dass sie für den jungen Mann heute wohl die Einberufung an eine Kriegsfront mit sich bringt, konnte damals niemand wissen.
Gericht: Landesverweisung sei «unzumutbar»
Aus diesem Grund äusserte das Zürcher Zwangsmassnahmengericht am 29. Oktober 2024 schwerwiegende Bedenken gegen die Ausschaffung. Einen Tag vor dem Abflug entliess es den Mann umgehend aus der Haft. Der Vollzug der Landesverweisung sei «unzumutbar», heisst es im Urteil. Darin wird auch explizit auf das völkerrechtlich geschützte und im Schweizer Strafgesetz festgeschriebene Rückschiebungsverbot verwiesen. Die Ukraine plane mit einem neuen Mobilisierungsgesetz, möglichst viele Männer zum Kriegsdienst einzuziehen. Es drohten ein Kriegseinsatz und damit «der Tod oder eine schwere körperliche Versehrtheit».
Das Gericht fand in den Akten zudem «keinerlei Nachweise», dass das Zürcher Migrationsamt ernsthaft geprüft hätte, ob die Rückführung tatsächlich möglich sei. Dabei muss diese aufgeschoben werden, wenn ihr «zwingende Bestimmungen des Völkerrechts» wie das Rückschiebungsverbot entgegenstehen, weil die betroffene Person in ihrem Herkunftsland konkret an Leib oder Leben gefährdet ist.
Ukrainer hätte mehr Zeit haben müssen
Das Zwangsmassnahmengericht entscheidet über die Zulässigkeit der Ausschaffungshaft und nicht, ob eine Ausschaffung gemacht werden darf. Aber: «Dass das Migrationsamt Zürich in dieser Sache nicht abgeklärt hat, ob ein zwingendes Vollzugshindernis vorliegt, ist möglicherweise rechtswidrig», sagt Fanny de Weck.
Die Anwältin gilt als Expertin in Sachen Landesverweis. Dieser Fall sei besonders stossend, da das Migrationsamt durch ein Gericht deutlich auf mögliche Vorbehalte auch bezüglich der Zulässigkeit der Rückweisung aufmerksam gemacht worden sei, sagt de Weck. «Zudem hätte dem Betroffenen Zeit gegeben werden müssen, sich zu einem möglichen Aufschub der Landesverweisung zu äussern und mit einem Anwalt auszutauschen.»
Marschbefehl sofort ausgestellt
Nichts davon ist passiert. Im Gegenteil: Der heute 28-Jährige wurde, direkt nachdem er aus der Ausschaffungshaft entlassen worden war, von Zürcher Kantonspolizisten festgenommen und ohne weitere Abklärungen via Polen an die ukrainische Grenze gebracht, wo er sofort einen Marschbefehl erhielt. Dieser liegt dem Beobachter vor.
Das Migrationsamt Zürich wehrt sich gegen die Vorwürfe und schreibt, der Betroffene habe nie um einen Aufschub der Landesverweisung ersucht. Ein möglicher Einzug in die Armee sei kein Vollzugshindernis, die drohende Verpflichtung zum Kriegsdienst kein Grund, jemanden nicht auszuschaffen. Das Staatssekretariat für Migration habe den Vollzug unterstützt und «klar zum Ausdruck» gebracht, dass er rechtens sei. Ob die Ausschaffung durchgeführt wird, liegt allerdings in kantonaler Verantwortung.