Gendergap bei AHV-Reform
Normalerweise überstimmen Frauen die Männer

Das Ja zur AHV-Reform war hauchdünn. Frappant: Es waren vor allem Alte, Reiche und Männer, die Junge, Ärmere und Frauen überstimmten. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt aber: Wenn die Frauen wollen, dann besiegen sie die Männer an der Urne.
Publiziert: 26.09.2022 um 13:57 Uhr
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Aktualisiert: 26.09.2022 um 14:54 Uhr
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Das Stimmvolk hat der AHV-Reform zugestimmt, gegen den Widerstand der Linken: (v.l) Martine Docourt, Cédric Wermuth, Tamara Funiciello, Tom Cassee, Prisca Birrer-Heimo und Samira Marti.
Foto: keystone-sda.ch
Sara Belgeri

Er sagte Ja, sie sagte Nein. Bei Herr und Frau Schweizer dürfte der Haussegen seit Sonntagabend vielerorts schief hängen. Denn: Die Erhöhung des Frauenrentenalters wurde mit 50,6 Prozent nicht nur äusserst knapp angenommen, es tat sich zudem der grösste Geschlechtergraben in der Abstimmungsgeschichte der Schweiz auf.

«Die Männer haben gegen den Willen der Frauen das Rentenalter erhöht», sagt SP-Nationalrätin Samira Marti (28) gegenüber Blick TV. Auch Politologe und Blick-TV-Experte Claude Longchamp (65) stellt fest: «Eine Männermehrheit hat über die Frauen bestimmt.»

Der Unterschied zwischen den Geschlechtern war frappant. Die Nachwahlbefragung von Tamedia zeigt: Während Frauen die AHV-Reform mit einer Zweidrittelmehrheit (63 Prozent) ablehnten, stimmten zwei Drittel (65 Prozent) der Männer dafür. Der Gendergap betrug also satte 28 Prozentpunkte. Die mit der Reform verknüpfte Erhöhung der Mehrwertsteuer war weniger umstritten, auch zwischen den Geschlechtern – der Unterschied betrug aber trotzdem hohe 21 Prozentpunkte.

Geschlechter in der Vergangenheit immer wieder uneinig

Ein Geschlechtergraben in der Schweizer Politik ist nicht neu. Es ist aber längst nicht so, dass Männer die Frauen immer überstimmt haben. Im Gegenteil: Frauen haben sich in den letzten dreissig Jahren an der Urne viel öfter durchgesetzt als Männer, das wertete Politologe Longchamp 2019 in der «Republik» aus. Vor allem bei gesellschafts- und sozialpolitischen Vorlagen waren sich die Geschlechter in der Vergangenheit immer wieder uneinig.

Bei der Abstimmung über die Tabakprävention von 1993 beispielsweise betrug der Geschlechterunterschied 18,4 Prozentpunkte. Damals stimmten 35,8 Prozent der Frauen und nur 17,4 Prozent der Männer für die Initiative, die Tabakwerbung verbieten wollte. Auch bei der Abstimmung zur Rassismus-Strafreform von 1994 tat sich ein auffälliger Geschlechtergraben auf: 64 Prozent der Frauen stimmten für die Vorlage, 53 Prozent der Männer waren dagegen.

Die jüngste Abstimmung, bei der Männer und Frauen deutlich unterschiedlich abstimmten, datiert von 2014. Damals versenkten die Frauen mit einem Nein-Stimmenanteil von 58 Prozent den Kauf des Kampfflugzeugs Gripen. 53 Prozent der Männer hatten diesem zugestimmt. Die letzte Volksabstimmung, bei der die Männer die Frauen überstimmten, war 2011, als die Stimmen der Männer bei der Volksinitiative «Für den Schutz vor Waffengewalt» den Ausschlag gaben.

Mehrere Gräben bei der AHV-Reform

Nicht nur der Geschlechterunterschied ist auffällig bei der Abstimmung zur AHV-Reform. Die Tamedia-Nachbefragung zeigt: Auch bei Einkommen, Alter und Sprachregion taten sich tiefe Gräben auf. So fand die Erhöhung des Rentenalters erst ab einem Einkommen von 9000 Franken und ab 65 Jahren eine Mehrheit. Letzteres trifft auch bei der Mehrwertsteuererhöhung zu. Die Zusatzfinanzierung der AHV war allerdings schon ab einem Einkommen von 5000 Franken mehrheitsfähig.

Frappant ist auch das unterschiedliche Stimmverhalten in der Romandie und der Deutschschweiz. Während in der Deutschschweiz ausser Schaffhausen, Solothurn und Basel-Stadt alle Kantone der AHV-Revision zustimmten, lehnten sie alle welschen Kantone ab. Im Jura war dieser Unterschied am offensichtlichsten: Die Jurassierinnen und Jurassier stimmten mit über 70 Prozent gegen die Erhöhung des Frauenrentenalters.

Auch interessant: Die Stimmbeteiligung war in der Romandie wesentlich tiefer als in der Deutschschweiz. In vielen welschen Kantonen lag sie unter 50 Prozent – zum Vergleich: Diesseits des Röstigrabens gingen durchschnittlich 52 Prozent an die Urne. Bei der Abstimmung machten nur gut 32'000 Stimmen den Unterschied. Wären die Welschen also zahlreicher an die Urne gegangen, wäre die Abstimmung wohl anders herausgekommen.

Dasselbe gilt übrigens für die Frauen: Statistiken zeigen seit Jahren, dass die Stimmbeteiligung bei jungen Frauen am tiefsten ist. Wollen sie etwas verändern, liegt es also an ihnen, an die Urne zu gehen.


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