«Wer nicht in der Schweiz aufwuchs, hat kein Netzwerk»
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Politik-Redaktorin hält fest:«Wer nicht in der Schweiz aufwuchs, hat kein Netzwerk»

Expertin Lea Portmann
«Wir diskriminieren eine sehr grosse Bevölkerungsgruppe»

Die Politologin Lea Portmann forscht seit Jahren zur Repräsentation von Minderheiten in der Demokratie. Sie sagt, die Parteien machen zu wenig, um Kandidaten mit Migrationshintergrund in aussichtsreiche Positionen zu bringen.
Publiziert: 18.09.2023 um 00:20 Uhr
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Aktualisiert: 18.09.2023 um 10:32 Uhr
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Politologin Lea Portmann forscht zu den Chancen von Minderheiten in der direkten Demokratie.
Benno Tuchschmid
Benno TuchschmidCo-Ressortleiter Gesellschaft

2015 hatten 12 Prozent der Nationalrats-Kandidaten einen Migrationshintergrund. Dieses Mal sind es 14 Prozent. Was sagen Sie zu dieser Entwicklung?
Lea Portmann: Es ist grundsätzlich sicher positiv, wenn sich mehr Personen mit Migrationshintergrund als Kandidierende aufstellen lassen. Doch es ist auch wichtig, zu berücksichtigen, dass die Bevölkerung mit Migrationshintergrund, die einen Schweizer Pass hat und sich aufstellen lassen kann, kontinuierlich zunimmt. Personen mit Migrationshintergrund bleiben insgesamt auf den Parteilisten weiterhin stark untervertreten.

Viele Parteien rücken sehr offensiv Kandidaten mit Migrationshintergrund in die Öffentlichkeit – beispielsweise über Secondo-Listen. Alles nur Show?
Das kann man so sehen. Secondo-Listen gibt es ja schon länger. Grundsätzlich ist das positiv, weil es die Sichtbarkeit erhöht. Fakt ist aber: Echte Wahlchancen hat nur, wer auf einer Hauptliste einen guten Listenplatz hat. Das passiert noch viel zu wenig.

Spezialistin für politische Diskriminierung

Lea Portmann (35) forscht seit Jahren zur Repräsentation von Minderheiten in der Demokratie. 2019 publizierte sie gemeinsam mit Nenad Stojanovic die Arbeit «Electoral Discrimination Against Immigrant-Origin Candidates», in der sie unter anderem den Anteil Kandidaten mit ausländischen Namen auswertete. Portmann ist Projektleiterin bei Interface Politikstudien und Lehrbeauftragte an der Universität Basel.

Lea Portmann (35) forscht seit Jahren zur Repräsentation von Minderheiten in der Demokratie. 2019 publizierte sie gemeinsam mit Nenad Stojanovic die Arbeit «Electoral Discrimination Against Immigrant-Origin Candidates», in der sie unter anderem den Anteil Kandidaten mit ausländischen Namen auswertete. Portmann ist Projektleiterin bei Interface Politikstudien und Lehrbeauftragte an der Universität Basel.

Bei der vergangenen Nationalratswahl (2019) hatten nur gerade 6 Prozent der Gewählten ausländische Namen, unter den Kandidaten waren es noch 13 Prozent. Wieso sinkt der Anteil bei der Wahl so stark?
Aus zwei Gründen: Einerseits ist die Chance mit einem ausländischen Namen geringer, panaschiert oder kumuliert, also doppelt auf eine Liste geschrieben zu werden. Mit einem Schweizer Namen passiert das häufiger – und das erlaubt Kandidaten, in den Listen nach oben zu klettern. Andererseits steigt mit einem ausländischen Namen die Gefahr, dass einen die Wähler von der Liste streichen. Das hat unsere Forschung nachgewiesen.

Selbst in linken Parteien, die sich Integration auf die Fahne schreiben, geht es nur langsam vorwärts. Wieso?
Netzwerke sind in der Politik entscheidend. Es fängt beim Einstieg in die Politik an: Ohne eine Mentorin oder einen Mentor ist es schwierig, in Parteien zu kommen. Menschen fördern oft jene, die ihnen ähneln und aus einem ähnlichen Umfeld kommen. Da haben Menschen mit Migrationshintergrund einen Nachteil. Die Netzwerke spielen aber auch im Wahlkampf eine zentrale Rolle: Da muss man auf Podien eingeladen werden, muss Spender haben und so weiter. Und Netzwerke sind eben auch entscheidend beim Kampf um gute Plätze auf den Wahllisten.

Im Kanton Luzern wurde Ylfete Fanaj als Regierungsrätin gewählt, in Egerkingen SO Alban Rudaj als Gemeinderat.
Ja, es ist einiges in Bewegung – und es gibt durchaus positive Entwicklungen. Es gibt auch Beispiele wie Sanija Ameti, die am Flughafen Pristina Wahlplakate aufgehängt hat. Das sind neue Netzwerke, die sich da etablieren. Und das hat einen Effekt – wenn sich Menschen mit Migrationshintergrund repräsentiert fühlen, dann gehen sie öfters wählen.

Wie steht die Schweiz im internationalen Vergleich da?
Die Forschung zur Diskriminierung von Minderheiten mit Migrationshintergrund in demokratischen Wahlprozessen ist noch jung. Die Schweiz leistet in diesem Feld einen wichtigen Beitrag, weil es wohl kein anderes Land gibt, in dem sich so viele Daten zur Frage der Repräsentation und Diskriminierung auswerten lassen. Die existierende Forschung in Europa zeigt in die gleiche Richtung: Diskriminierung aufgrund der Herkunft spielt bei Wahlen eine grosse Rolle, während sie aufgrund der Geschlechter stark abgenommen hat.

Wieso forschen Sie dazu?
Wir sprechen hier von der Diskriminierung einer sehr grossen Bevölkerungsgruppe. 20 Prozent der Schweizer Stimmbevölkerung hat Migrationshintergrund und kann sich aufstellen lassen. Diese Bürger müssen sich einbringen können. Bis sie dazu nicht faire Chancen haben, ist die politische Gleichheit in der Schweiz nicht erreicht.

Was muss geschehen, damit sich das ändert?
Es ist ganz einfach: Die Parteien müssen Menschen mit Migrationshintergrund auf aussichtsreichen Listenplätzen positionieren. Nur dann haben sie echte Wahlchancen.

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