Therese Schläpfer (62) kann sich nicht erinnern, wann sie einmal anders stimmte als die SVP-Fraktion. Vor zwei Jahren zog die als «Sozialhilfe-Schreck» bekannt gewordene Gemeindepräsidentin von Hagenbuch ZH in den Nationalrat ein. Seither politisiert sie dort gegen Migranten, Sans-Papiers und Sozialhilfebetrüger. Leise und unauffällig.
«Mein Gedankengut deckt sich stark mit jenem der SVP», sagt Schläpfer. Deshalb weiche sie selten von der Parteilinie ab. Hinzu komme, dass die Fraktion jeweils vor den Abstimmungen eine gemeinsame Position fasse. «Ich finde es nur richtig, dass man dann im Rat zur Partei steht.»
Nordkoreanische Verhältnisse bei Linken
Parteitreue Politikerinnen wie Therese Schläpfer gibt es im Nationalrat viele. Eine Auswertung von Blick basierend auf den Daten der Plattform Smartmonitor zeigt: Frauen weichen im Schnitt seltener von der Parteilinie ab als Männer. Die Abweichungsquote der einzelnen Nationalratsmitglieder wurde von Smartmonitor anhand von 1326 Abstimmungen berechnet, die zwischen Dezember 2019 und September 2020 stattfanden. Als Abweichung gilt, wenn ein Parlamentarier oder eine Parlamentarierin anders stimmt als mindestens zwei Drittel der Partei.
Der Geschlechterunterschied zeigt sich über alle Parteien hinweg, aber nicht in allen gleich stark. Bei den Linken, deren Parteidisziplin fast schon an nordkoreanische Verhältnisse erinnert, ist er minim. Bei SP und Grünen gibt es keine Abweichler, weder männliche noch weibliche.
Frauen sind «anders gestrickt»
Tiefer ist der Geschlechtergraben bei FDP und SVP. Während SVP-Nationalrätin Schläpfer im ersten Legislaturjahr bloss zwei Mal anders stimmte als zwei Drittel ihrer Parteikollegen, scherte SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor (57) rund 100-mal aus. Er liegt damit hinter FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen (39), der die Abweichler-Rangliste anführt. Wasserfallen stimmte bei jeder achten Abstimmung anders als seine Parteikollegen.
Frauen verhielten sich nach einem Mehrheitsentscheid in der Partei möglicherweise loyaler als Männer, erklärt sich Therese Schläpfer den Geschlechterunterschied. «Wir sind hier vielleicht etwas anders gestrickt.»
Männer sind karriereaffiner
Dass es Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, wisse man aus der Forschung, sagt Politik-Professorin Isabelle Stadelmann-Steffen von der Universität Bern. «Wenn sich Frauen in Parteien engagieren, spielen Machtaspekte – wie etwa die Karrierechancen innerhalb einer Partei – für sie eine geringere Rolle als für Männer.» Entsprechend dürften sich Frauen vor allem aus inhaltlicher Überzeugung für ein politisches Amt in einer Partei entscheiden. Es sei daher naheliegend, dass Frauen stärker auf Parteilinie politisierten als Männer.
Schweiz kein Sonderfall
Die Schweiz ist diesbezüglich kein Sonderfall. Studien aus den USA, Grossbritannien oder afrikanischen Staaten zeigen, dass Parlamentarierinnen seltener vom Parteikurs abweichen als ihre männlichen Kollegen. In einer Studie, die sich auf afrikanische Parlamente fokussiert und die kürzlich in der renommierten «American Political Science Review» erschienen ist, sehen die Forschenden zwei Gründe für den Geschlechtergraben.
Erstens müssten Frauen eher linientreu politisieren, um ihre Aufstiegschancen in der Partei zu erhöhen, während Männer stärker auf informelle Männer-Netzwerke zählen könnten. Zweitens gehen die Forschenden davon aus, dass Frauen – einmal im Amt und beeinflusst von geschlechterspezifischen Normen – eher dazu tendierten, das von ihnen gewünschte Verhalten zu zeigen.
Pikant ist das Fazit der Wissenschaftler: Sie argumentieren, dass die weibliche Parteidisziplin auch einen Einfluss auf die Priorisierung von Frauenanliegen habe. So würden linientreue Parlamentarierinnen klassische Fraueninteressen weniger stark gewichten als rebellische. Das Resultat: Die Frauenlobby im Parlament sei schwächer, als sie sein könnte.
Frauengruppe ist nicht homogen
Das Schweizer Parlament ist seit den letzten Wahlen so weiblich wie noch nie. Die Forderungen des Frauenstreiks hallen bis heute nach. Politologin Stadelmann-Steffen warnt jedoch davor, nun vorschnell anzunehmen, dass die Durchsetzung von Frauenanliegen wegen der linientreuen Frauen gebremst würde.
Zum einen müsste man für eine Einschätzung das Abstimmungsverhalten der Parlamentarierinnen nach Themen aufschlüsseln, sagt sie. Zum anderen gäbe es nicht die Frauenanliegen, hinter denen alle Parlamentarierinnen stünden. «Die Frauen sind eine heterogene Gruppe. Eine bürgerliche Frau hat andere gleichstellungspolitische Ansichten als eine linke.»
SVP-Frau setzt sich durch
Derweil ordnet sich SVP-Nationalrätin Schläpfer trotz ihrer Parteitreue nicht immer der Mehrheit unter. Als sich die SVP im Frühling dagegen wehrte, dass der Mutterschaftsurlaub bei einem Tod der Mutter auf den Vater übergeht, beantragte die dreifache Mutter eine erneute Diskussion in der Fraktion. 27 SVP-Nationalräte stimmten danach im Rat wie Schläpfer. Sie hatte die Partei mehrheitlich auf ihre Linie gebracht.