Die Versprechen waren gross, als vor einem Jahr rund 5000 Politikerinnen und Politiker zu den Parlamentswahlen antraten. Insbesondere die Ständeratskandidaten priesen sich als Vertreter ihrer Kantone an. Schliesslich müssen sie auch parteiübergreifend Stimmen gewinnen, wollen sie ins Stöckli gewählt werden.
So sagte etwa der abtretende Zuger Regierungsrat Matthias Michel (57, FDP), er wolle die «Zuger Chriesi», wie Innovationskraft oder tiefe Steuern, nach Bern tragen. Und der ehemalige St. Galler Regierungsrat und amtierende Ständerat Benedikt Würth (52, CVP) wirbt bis heute auf seiner Website damit, speziell für die St. Galler Anliegen einzustehen.
Zweifelhaftes Selbstverständnis
Der Ständerat gilt als Hort des Föderalismus. Jeder Kanton schickt unabhängig von seiner Bevölkerungsgrösse zwei Vertreter nach Bern, was insbesondere den kleineren Kantonen überproportional viel Gewicht verleiht – und das Selbstbild der Ständeräte prägt.
In einer Auswertung, die kürzlich im Sammelband «Der Ständerat» von Adrian Vatter (55) und Sean Mueller (37) erschienen ist, geben fast 80 Prozent der Ständeräte an, mit ihrer politischen Arbeit die Bevölkerung ihres Kantons repräsentieren zu wollen. Ganz im Gegensatz zu den Nationalräten, die sich in erster Linie als Vertreter ihrer Partei verstehen.
Das Selbstverständnis der Ständeräte deckt sich allerdings nicht in jedem Fall mit ihrem tatsächlichen Verhalten. So decken die Politologen im Buch auf, dass die Ständeräte in den letzten elf Jahren (2008 – 2019) nur in vier von insgesamt 83 eingereichten parlamentarischen Initiativen einen direkten Bezug zu ihrem Kanton herstellen. Und auch die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) kommt im Föderalismus-Monitoring zum Schluss, dass sich die Standesvertreter «nicht wesentlich föderalismusfreundlicher» verhalten als ihre Kollegen in der grossen Kammer.
Im Zweifel für die Partei
Sind Ständeräte also mehr Parteisoldaten als Kantonsvertreter? Diese Tendenz hat sich seit der Einführung des elektronischen Abstimmungssystems im Ständerat zumindest akzentuiert. Während die Nationalräte schon seit 1994 per Knopfdruck abstimmen, wehrten sich die Parlamentarier im Stöckli jahrelang dagegen, dass ihr Abstimmungsverhalten elektronisch erfasst wird.
Die Transparenz, die seit sechs Jahren im einst als Dunkelkammer kritisierten Ständerat herrscht, hat die Parteidisziplin deutlich verstärkt. Denn nicht nur Forschende können die allermeisten namentlichen Abstimmungsprotokolle einsehen, sondern auch die Parteispitzen. Insbesondere ehemals kompromissbereite Ständeräte von SP und SVP wagen sich heute seltener, von der Parteilinie abzuweichen. Das häufigste Muster ist laut den Politologen, dass die Ständeräte im Zweifel dem oppositionellen Kurs ihrer Mutterpartei folgen und eine Vorlage ablehnen.
Vorbei mit der Einigkeit
Auch das im Wahlkampf viel beschworene Phänomen der «ungeteilten Standesstimme», von der man spricht, wenn beide Vertreter eines Kantons identisch abstimmen, lässt sich seit der Einführung des elektronischen Abstimmungssystems deutlich seltener beobachten. Bei Kantonsvertretern, die unterschiedlichen Parteien angehören, nahm die Einigkeit nach der Einführung des elektronischen Abstimmungssystems um 22,6 Prozentpunkte ab.
Eine Ausnahme bilden Parlamentarier, die nicht mehr zur Wiederwahl antreten: Sie fürchten sich weniger vor Sanktionen und änderten ihr Abstimmungsverhalten auch unter dem neuen Transparenz-Regime kaum.