EU hat Plauderstunden mit der Schweiz satt
«Sagt uns, was ihr wollt»

Der Bundesrat möchte mit der EU wieder ins Gespräch kommen. Der frühere EU-Chefunterhändler Leffler aber macht klar: Jetzt muss die Schweiz liefern.
Publiziert: 12.09.2021 um 00:28 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2021 um 09:58 Uhr
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Ständig tauchten aus Bern neue Fragen auf: Der Schwede Christian Leffler verhandelte als EU-Chefunterhändler fünf Jahre lang mit der Schweiz.
Foto: AFP/Getty Images
Camilla Alabor

Vor knapp vier Monaten brach der Bundesrat die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU Knall auf Fall ab. Wie es weitergehen soll, ist weiterhin unklar: An einer Sitzung mit Aussenpolitikern vor zwei Wochen wiederholte Aussenminister Ignazio Cassis lediglich die Idee eines «politischen Dialogs» mit Brüssel. Übersetzt: Die Schweiz möchte gerne ein bisschen plaudern, nicht aber verhandeln.

Diese Woche nun war der ehemalige Brüsseler Chefunterhändler Christian Leffler (66) in Bern, als Referent an einer Tagung des Parlaments. Im Gespräch mit SonntagsBlick macht er klar: Ohne neue Vorschläge seitens der Schweiz gibt es keinen Ausweg aus der aktuellen Sackgasse.

Herr Leffler, im Mai hat der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU beendet – und Brüssel damit vor den Kopf gestossen. Wie beurteilen Sie die Stimmung in der EU jetzt?
Christian Leffler:
Ich glaube, der Entscheid an sich überraschte die EU nicht allzu sehr. Die Verhandlungen hatten sich ja über Jahre hingezogen: Jedes Mal, wenn alles beantwortet schien, tauchten aus Bern neue Fragen auf. Es war also weniger der Abbruch der Verhandlungen, der in Brüssel für Erstaunen sorgte, als vielmehr die Art, wie abrupt dieser über die Bühne ging. Das kam bei der EU-Kommission nicht gut an.

Der Bundesrat hofft nun, mit einem politischen Dialog das Gespräch mit Brüssel wieder in Gang zu bringen. Ist diese Hoffnung berechtigt?
Ein politischer Dialog alleine wird die Probleme zwischen der Schweiz und der EU nicht lösen. Wir müssen nicht über die Probleme reden – wir wissen, welches die Probleme sind, wir haben jahrelang darüber gesprochen. Was Brüssel erwartet, sind konkrete Vorschläge aus Bern. Wenn der Bundesrat das Rahmenabkommen nicht will, was will er dann? Auf diese Frage hat die Schweiz bis jetzt keine Antwort gegeben.

Das scheint der Bundesrat selber nicht zu wissen. Stattdessen wartet er auf den Bericht aus Brüssel.
Sie meinen den Bericht zum Stand der Beziehungen zur Schweiz?

Genau. Dieser soll im Herbst, also in den kommenden Wochen, fertig sein. Was erwarten Sie: Wie wird sich Brüssel positionieren?
Da ich nicht länger für die EU tätig bin, kann ich über den Inhalt höchstens spekulieren.

Spekulieren Sie!
Ich kann gerne meine Vermutungen teilen. Aber lassen Sie mich erst erklären, was von diesem Bericht zu erwarten ist – und was nicht.

Bitte.
Seit dem Abbruch der Verhandlungen am 26. Mai lässt die EU-Kommission jeden Bereich untersuchen, in dem Beziehungen zur Schweiz bestehen, und klärt ab: Wo stehen wir? Was funktioniert? Was funktioniert nicht? Der Bericht wird diese Ergebnisse zusammenfassen, darauf basierend entscheiden die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten das weitere Vorgehen. Konkrete politische Empfehlungen dürften erst später folgen.

Selbst wenn der Rapport also publik ist: Klarheit darüber, wie die EU ihr Verhältnis zur Schweiz regeln will, wird es noch länger nicht geben?
Ich gehe davon aus, dass es Ende Jahr wird, bis ein offizieller Bericht auf dem Tisch liegt. In Brüssel ist derzeit niemand in Eile, wenn es um das Schweiz-Dossier geht.

Welche Schlussfolgerungen erwarten Sie?
Ich denke, die EU wird ihre grundsätzliche Position nicht ändern. Heisst: Ohne Regelung der institutionellen Fragen – Rechtsentwicklung, Rechtsauslegung, Überwachung der Abkommen, Streitbeilegung – gibt es keine weiteren Marktzugangsabkommen. Die Kommission dürfte bestätigen: Diese Fragen müssen gelöst werden, sonst können wir nicht weitergehen.

Damit sind wir wieder am selben Punkt wie vor Beginn der Verhandlungen über das Rahmenabkommen.
Die Kommission dürfte dem Bundesrat eine klare Botschaft senden: «Sagt uns, was ihr wollt».

Die Strategie des Bundesrats, das Problem auszusitzen, wird also nicht funktionieren?
Probleme verschwinden nicht einfach, wenn man sie ignoriert. Im Leben wie in der Politik.

Welche Möglichkeiten hat die Schweiz denn, um ihr Verhältnis mit der EU zu regeln – von einem Beitritt mal abgesehen?
Vielleicht war es falsch, allein die institutionellen Fragen in ein Abkommen packen zu wollen. Damit lag der Fokus auf Themen, die alle nicht wahnsinnig populär sind – wie eben der Streitschlichtung.

Persönlich

Christian Leffler (66) war von 2015 bis 2020 als EU-Chefunterhändler für die Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der Schweiz zuständig. Der gebürtige Schwede, der in London und Genf studiert hatte, amtete zudem als Vize-Generalsekretär des Europäischen Auswärtigen Dienstes in Brüssel. Seit seiner Pensionierung im vergangenen Jahr lebt er in Belgien und Frankreich.

Christian Leffler (66) war von 2015 bis 2020 als EU-Chefunterhändler für die Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der Schweiz zuständig. Der gebürtige Schwede, der in London und Genf studiert hatte, amtete zudem als Vize-Generalsekretär des Europäischen Auswärtigen Dienstes in Brüssel. Seit seiner Pensionierung im vergangenen Jahr lebt er in Belgien und Frankreich.

Was schwebt Ihnen stattdessen vor?
Eine Möglichkeit wäre das Schnüren eines neuen bilateralen Pakets. Diese Bilateralen III würden einerseits neue Marktzugangsabkommen beinhalten und andererseits die institutionellen Fragen regeln. Ein Paket erlaubt es eher, eine Balance zu finden zwischen den Interessen der EU und jenen der Schweiz. So war das auch bei den Bilateralen I und II.

Wäre ein solches Vorgehen denn nicht auch für die bestehenden Verträge möglich – dass man die institutionellen Fragen in den jeweiligen Verträgen klärt?
Theoretisch schon. Aber einer der Gründe, warum beide Seiten die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen aufgenommen haben, war just, dass man die bestehenden Verträge nicht aufschnüren wollte. Denn dann muss man die einzelnen Verträge wieder dem Parlament und – in der Schweiz – allenfalls dem Stimmvolk vorlegen. Damit würde über die Personenfreizügigkeit und das Schengen-Abkommen erneut abgestimmt.

Mit dem Risiko, dass beide Abkommen abgelehnt und die Bilateralen als Ganzes infrage gestellt werden.
Genau. Das schienen jene politischen Kräfte, welche die Beziehungen mit der EU vertiefen wollten, nicht riskieren zu wollen.

Nun könnte man diesen Ansatz doch auf einzelne neue Abkommen anwenden – und die Blockade zwischen der Schweiz und der EU damit lösen?
Wenn die Schweiz einzelne Abkommen herauspicken will, die alleine in ihrem Interesse sind, wird das nicht funktionieren. Der Zugang zum Binnenmarkt ist kein À-la-carte-Menü; es geht vielmehr darum, gemeinsame Interessen zu finden. Das ist etwas, was in der politischen Debatte der Schweiz oft vergessen geht: Es ist die Schweiz, die den Zugang zum EU-Binnenmarkt will. Wenn man in einem Verein – auch nur teilweise – mitspielen will, muss man dessen Regeln akzeptieren. Aus diesem Grund lehnt die EU auch das Stromabkommen ab.

Wie meinen Sie das?
In der Schweiz sagen manche: Ein Stromabkommen ist in beidseitigem Interesse. Das ist richtig, aber das viel grössere Interesse der EU ist die Integrität des Binnenmarkts. Deshalb ist der Entscheid, keine neuen Abkommen zu schliessen, in der EU unbestritten; selbst in den Schweizer Nachbarländern. Ich glaube, dieser Aspekt wurde hierzulande unterschätzt.

Sie waren als EU-Chefunterhändler jahrelang für die Beziehungen mit der Schweiz zuständig. Obwohl wir unter Europäern sind, scheint es zwischen Bern und Brüssel andauernd Missverständnisse zu geben. Wie erklären Sie sich das?
Ich bin nicht sicher, ob es sich wirklich um Missverständnisse handelt. Oder ob es das Resultat einer politischen Debatte ist, die in der Schweiz sehr nach innen gerichtet ist. Die Perspektive der EU wird in Bundesbern oft völlig ausgeblendet; das einzige Thema sind die innerschweizerischen Befindlichkeiten. Natürlich weiss man in Brüssel, dass ein Abkommen in der Schweiz vor dem Volk bestehen muss. Das heisst aber nicht, dass die EU die Schweizer Interessen über die eigenen stellt. Das kann sie nicht – und das will sie auch nicht.

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