Vor zwei Wochen haben die EU und die Schweiz nach langer Zeit die Gespräche über das Rahmenabkommen wiederaufgenommen. Bis wann rechnen Sie mit einem Ergebnis?
Petros Mavromichalis: Ich glaube, mit etwas gutem Willen von beiden Seiten sollte eine Lösung innerhalb der nächsten Wochen möglich sein.
Der Bundesrat hat drei Punkte definiert, ohne die ein Abkommen aus seiner Sicht nicht mehrheitsfähig ist: Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie, staatliche Beihilfen. Ist die EU hier kompromissbereit?
Da, wo es Interpretationsspielraum gibt, bieten wir gerne Hand für Klärungen. Was wir nicht tun werden: die umstrittenen Dossiers nochmals öffnen. Die Verhandlungen sind beendet.
Die Gewerkschaften machen sich Sorgen um eine Aufweichung des Lohnschutzes. Ist die EU da zu Konzessionen bereit?
Wir sind auch hier bereit, Zusicherungen zu machen. Aber wir werden nicht auf Punkte wie die Acht-Tage-Regel zurückkommen, wo bereits Kompromisse gefunden wurden. Aus unserer Sicht sind einige der flankierenden Massnahmen unvereinbar mit dem EU-Recht und den bilateralen Verträgen. Denn sie sind unverhältnismässig. Weil wir aber wissen, dass der Lohnschutz für die Schweiz wichtig ist, sind wir der Schweiz entgegengekommen.
Inwiefern?
Wir akzeptieren eine Voranmeldefrist von vier Tagen für EU-Unternehmen. Vier Tage, das ist immer noch lange genug! Gerade für die Baubranche, wo vieles vom Wetter abhängt und die Planung eng getaktet ist. Auch das heutige System der Kautionen ist unhaltbar.
Warum?
Selbst kleinste Firmen müssen eine Kaution von mehreren Tausend Franken überweisen, bevor sie in der Schweiz tätig werden dürfen – alleine deshalb, weil sie ausländisch sind!
Die Kautionen gibt es aus gutem Grund: Hält sich eine ausländische Firma nicht an Schweizer Recht – etwa indem sie Dumpinglöhne zahlt –, ist es schwierig, sie dafür zu belangen.
Darum sind wir bereit, Kautionen für jene Firmen zu akzeptieren, die wegen solcher Verstösse verurteilt wurden.
Die Schweiz muss also abwarten, bis etwas schiefläuft, bevor sie sich schützen kann?
Wenn Sie davon ausgehen, dass eine Firma kriminell ist, nur weil sie nicht schweizerisch ist, ist das ziemlich beleidigend. In ihrer heutigen Form behindern die flankierenden Massnahmen europäische Firmen darin, ihre Dienstleistungen in der Schweiz anzubieten. Das können wir nicht akzeptieren.
Können Sie denn nicht nachvollziehen, dass sich die Schweiz gegen Lohndumping schützen will?
Doch, natürlich. Wir haben in der EU ebenfalls Massnahmen gegen Dumpinglöhne ergriffen. Das Prinzip, worauf sich die Schweiz stützt – gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort – gilt auch in der EU. Die eingesetzten Mittel müssen aber verhältnismässig und nicht diskriminierend sein.
Inzwischen dreht sich die Debatte in der Schweiz auch um die Frage der Souveränität. Viele Bürger tun sich schwer mit der Idee, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) Urteile erlässt, die für die Schweiz bindend sind.
Ich glaube, da bestehen Missverständnisse: Die EU zwingt niemanden, an ihrem Binnenmarkt teilzunehmen. Das war und ist ein Wunsch der Schweiz. Mit den bilateralen Verträgen ist die EU diesem Wunsch nachgekommen. Wir erwarten aber im Gegenzug, dass die Schweiz sich an die Regeln des EU-Binnenmarkts hält – und dass sie diese gleich auslegt wie die anderen Teilnehmer. Die Rolle des EuGH beschränkt sich darauf, dies sicherzustellen. Das ist eine Frage der Fairness.
Gibt es Verhandlungsspielraum im Bezug auf die Rolle des EuGH?
Nein, den gibt es nicht.
Sie schliessen also aus, dass der Bundesrat das Thema in den aktuellen Gesprächen mit Brüssel nochmals aufbringt?
Für die EU ist die Rolle des EuGH kein Thema mehr. Es ist unvorstellbar, der Schweiz bei der Auslegung von EU-Recht eine Ausnahme zu gewähren. Das Prinzip der Einheit des EU-Rechts innerhalb des Binnenmarkts ist unantastbar.
Das Problem ist doch, dass der EuGH seine Kompetenzen teils sehr grosszügig interpretiert. Die Schweiz weiss also nicht genau, worauf sie sich mit dem EuGH einlässt.
Diese Befürchtungen sind unbegründet. Erstens beschränkt sich die Rolle des EuGH auf die fünf Marktzugangsabkommen und allfällige zukünftige Abkommen. Zweitens wurde der Schweiz das Recht eingeräumt, ein Binnenmarktgesetz nicht anzuwenden, wenn sich das Stimmvolk in einem Referendum dagegen ausspricht. In diesem Fall kann die Schweiz Teil des Binnenmarkts bleiben, muss sich aber für eine Kompensation verpflichten.
Das ist nett ausgedrückt. Etwas weniger nett: Die EU erlässt Sanktionen gegen die Schweiz.
Es handelt sich nicht um Sanktionen, sondern um eine Kompensation. Wenn Sie sich aus ethischen Gründen gegen den Militärdienst entscheiden, müssen Sie dafür Zivildienst leisten. Sonst wären ja all jene, die den Militärdienst leisten, die Gelackmeierten. Verstehen Sie, das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Ganz grundsätzlich scheint in der derzeitigen Debatte vergessen zu gehen, dass die EU der Schweiz in vielem entgegengekommen ist.
Wo denn?
Die EU akzeptiert die flankierenden Massnahmen in einer angepassten Form und garantiert sie für die Zukunft. Das paritätische Schiedsgericht war ebenfalls eine Konzession. Zudem kann die Schweiz durch das Rahmenabkommen bei der Entwicklung von neuem Binnenmarktrecht mitreden. Der wichtigste Punkt ist aber die erwähnte Möglichkeit, dass das Schweizer Volk zu einer EU-Regel auch Nein sagen kann. Dieses Recht hat kein anderer Staat im Binnenmarkt.
Wie reagiert die EU, wenn die Schweiz in Kürze sagen sollte: «Nein, dieses Rahmenabkommen wollen wir nicht?»
Das wäre eine grosse Enttäuschung, viel guter Wille wäre umsonst gewesen.
Was genau würde passieren?
Wir würden in der jetzigen Situation stehen bleiben. Es würde keine neuen Marktzugangsabkommen geben und die bestehenden würden nicht mehr aufdatiert.
Also in einer Situation, in der die EU die Schweiz piesackt, etwa mit der Nichtanerkennung der Börsenäquivalenz?
Seit 2008 sagt die EU, dass wir ein Rahmenabkommen brauchen – dessen Fehlen hat Konsequenzen. In Notsituationen wie bei der Pandemie arbeiten wir ad hoc sehr gut zusammen. Aber beim Marktzugang braucht unsere Beziehung ein stabiles institutionelles Fundament.
Auch die EU hat ein Interesse an guten Beziehungen, nicht nur die Schweiz.
Absolut. Die Schweiz ist ein wichtiger Partner. Wir teilen viele Werte; wir sind dazu verurteilt, uns zu verstehen – und das meine ich nicht negativ. Andere Formen der Zusammenarbeit als das Rahmenabkommen würden aber schlechter ausfallen. Das hat Grossbritannien erlebt. Die Briten dachten: Wenn die Europäer ihre BMW und ihren Prosecco auf der Insel verkaufen wollen, geben sie uns alles, was wir wollen. Nein! No. Non. So läuft es nicht.
Vergisst man in der Schweizer Diskussion die Perspektive der EU?
Ich habe eher den Eindruck, dass man manchmal vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Die Schweiz sollte auch in Betracht ziehen, wo sie geografisch liegt, mit wem sie Werte und Interessen teilt, wer ihre Freunde sind. Fühlen Sie sich China, den Vereinigten Staaten oder Russland näher? Für mich ist es offensichtlich: Ich lebe seit fünf Monaten in Bern und fühle mich zu Hause, genauso wie überall in Europa.
Glauben Sie noch an einen Abschluss des Abkommens?
Ich glaube und hoffe es.
Sie haben die Briten vorhin als abschreckendes Beispiel erwähnt. Aber London hat nun ein Freihandelsabkommen, ohne dass der EuGH mitredet.
Viele sagen, die Briten haben besser verhandelt und ein besseres Abkommen bekommen. Das ist nicht der Fall.
Warum sollte das nicht stimmen?
Ein Freihandelsabkommen ist etwas grundlegend anderes als ein Marktzugangsabkommen, so wie es die Schweiz hat. Die Briten zahlen beim Export ihrer Waren keine Zölle und sind an keine Kontingente gebunden. Aber die grössten Handelsbarrieren sind heutzutage nicht mehr Zölle oder Quoten, sondern Produktzertifizierungen, die Kontrolle von Gesundheits- und Umweltstandards und so weiter. Wegen Verzögerungen an der Grenze können nun die schottischen Fischer ihren Fisch nicht mehr rechtzeitig auf dem Kontinent verkaufen. Das nützt niemandem.
Petros Mavromichalis (56) amtet seit September 2020 als EU-Botschafter in Bern. Der griechisch-belgische Doppelbürger hat seine Karriere in den EU-Institutionen gemacht, zuletzt war er Abteilungsleiter beim EU-Nachrichtendienst in Brüssel. Mavromichalis ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in Bern.
Petros Mavromichalis (56) amtet seit September 2020 als EU-Botschafter in Bern. Der griechisch-belgische Doppelbürger hat seine Karriere in den EU-Institutionen gemacht, zuletzt war er Abteilungsleiter beim EU-Nachrichtendienst in Brüssel. Mavromichalis ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in Bern.