Beobachter der politischen Landschaft in der Schweiz gerieten während der Fussball-WM ins Staunen: Ausgerechnet das linksalternative Bern fiel durch liberalen Umgang mit dem moralisch umstrittenen Event in Katar auf. Ohne viel Aufhebens wurde ein Public Viewing auf öffentlichem Boden ermöglicht. Andere rot-grün dominierte Städte waren deutlich rigoroser, Zürich sprach sogar ein Verbot aus.
Seit 2017 Darlehen in der Höhe von 1,8 Milliarden
Grund für den Katar-freundlichen Kurs der Zähringerstadt könnte eine finanzpolitische Darbietung gewesen sein, die in ihrer Dimension erst seit gestern bekannt ist: Als Mitwirkende traten die Berner Exekutive und Fifa-Präsident Gianni Infantino (52) in der Rolle als Claire Zachanassian auf, der Milliardärin aus Dürrenmatts «Besuch der alten Dame», die der klammen Kleinstadt Güllen Geld in Aussicht stellt. Der Unterschied zum weltberühmten Stück: die Kleinstadt heisst Bern, der Betrag liegt höher und die Fifa verlangt keine Mordtat als Gegenleistung.
Der Hintergrund: Weil zwei Mitte- und FDP-Parlamentarierinnen in der Berner Jahresrechnung über Kredite der Fifa gestolpert waren, stellten sie eine Anfrage. Durch die kam heraus, dass die Stadt letztes Jahr 158 Millionen Franken vom Weltfussballverband erhalten hat.
Gestern legten die Behörden die Karten auf den Tisch und verblüfften die ganze Nation: Seit 2017 bezog die Bundesstadt demnach Darlehen in der Höhe von 1,8 Milliarden Franken – plus Negativzinsen, die im besagten Zeitraum drei Millionen Franken ausmachten. Die Sache wurde über Loanboox abgewickelt, eine Plattform für Fremdkapital.
Plötzlich verteidigt ein SP-Politiker die Fifa
Die Fifa als Liquiditätsquelle, das lässt aufhorchen: Zum einen offenbart sich eine dröhnende Doppelmoral. Der Stadtberner Finanzvorstand Michael Aebersold (60) tönt im Interview mit den Tamedia-Zeitungen wie ein Fifa-Lobbyist: wenn er die Probleme rund um Katar bis zur Unkenntlichkeit ausdifferenziert, wenn er darauf hinweist, dass die Exekutive «anhand von Fakten» statt moralischer Aspekte entscheide, wenn er betont, dass der Verband wegen Korruption «bisher nicht verurteilt» wurde und die Fifa zwar die WM «vor Jahren» an das Emirat vergab – doch, so Aebersold, sie nicht dort gebaut habe. Normalerweise sind SP-Genossen weniger zimperlich, wenn es um Kritik an der Fifa und der Weltmeisterschaft 2022 geht.
Vor allem stellt sich die Frage nach der Herkunft der finanziellen Mittel. Seit dem Aufstieg zur Milliardenmaschine kursieren im Umfeld des Weltfussballverbandes Vorwürfe wegen mutmasslicher Bestechungsfälle, ungetreuer Geschäftsbesorgung und Betrug. Die Fifa bestreitet solche Anschuldigungen, in Prozessen tritt sie als Geschädigte auf.
Finanzinspektorat kontrollierte Praxis mehrfach
Laut der Stadt Bern hätten die Fussballfunktionäre halt jeweils das beste Angebot gemacht, um die Engpässe zwischen den Steuereingängen zu überbrücken. Aber begibt sich die öffentliche Hand so nicht in die Risikozone?
«Die Fifa verfügt über keine Bewilligung als Bank oder für sonstige bewilligungspflichtige Finanzdienstleistungen in der Schweiz», stellt Tobias Lux von der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (Finma) klar.
Die 1,8 Milliarden fanden ihren Weg durch ein gesetzliches Schlupfloch: Kredite können in der Schweiz bewilligungsfrei vergeben werden. Bloss: wer dies gewerbsmässig tut, untersteht dem Geldwäschereigesetz, also strengen Complianceregeln und Controlling.
Doch profitieren die beiden Vertragsparteien in Bern und Zürich in dem Fall von einer Besonderheit. «Ausnahmen sind beispielsweise gegeben, wenn die Darlehen zins- und gebührenfrei erfolgen», sagt Lux. Solange also die Fifa an der Aare keine Zinsen einnimmt, geht das ohne weitere Aufsicht.
Das Stadtberner Finanzinspektorat hatte schon einmal die Geldaufnahme über Loanboox unter die Lupe genommen, wie dessen Leiterin Shanna Wagner sagt. 2022 kam es zu einer erneuten, routinemässigen Untersuchung dieser Praxis: «Im Januar wurde die Einhaltung der Richtlinien zur Schulden- und Vermögensverwaltung geprüft», so Wagner, wobei «finanztechnische Fragestellungen» im Fokus gestanden hätten. Das Resultat sei «gut» ausgefallen.
Wie immer Bern weitermacht: Im Gegensatz zum Dürrenmatt-Drama stirbt in diesem kein Mensch – höchstens ein bisschen die Glaubwürdigkeit.