Emotionaler Abschied einer Bundesrätin
Ein politisches Naturtalent

So emotional wie Doris Leuthards Rücktritt aus dem Bundesrat war lange kein Abgang mehr. Rückblick auf einen bemerkenswerten Tag und eine eindrucksvolle Karriere.
Publiziert: 28.09.2018 um 12:00 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 01:32 Uhr
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Am 14. Juni 2006 wurde Doris Leuthard in den Bundesrat gewählt. Hier gabs Glückwünsche von ihrem Parteikollegen, Ständerat Franz Wicki.
Foto: Keystone
Sermîn Faki

8.18 Uhr gestern Morgen im Ständerat: Auf dem Programm steht ein Vorstoss zur «Erhöhung oder Absenkung des Garantiegewichts und der Anhängelast von Personenwagen und leichten Nutzfahrzeugen».

Ratspräsidentin Karin Keller-Sutter (54) ist etwas aufgekratzter als sonst. Die Rolle als Kronfavoritin für die Nachfolge von Johann Schneider-Ammann (66) beschäftigt sie sichtlich. Ganz anders Doris Leuthard (55). Im nachtblauen Deuxpièces sitzt die Bundesrätin auf dem Magistratenstuhl und erklärt aufgeräumt, dass sie dem Bundesrat «Garantiegewicht und Anhängelast» noch in diesem Jahr vorlegen werde.

Die Abgeklärtheit hält nur 1 Minute und 53 Sekunden

Welch ein Unterschied zum Auftritt, den sie knapp drei Stunden später absolvieren wird! Als Leuthard um 11 Uhr vor die Medien tritt, um ihren Rücktritt zu erläutern, startet sie gewohnt strahlend, gar etwas spöttelnd über die Rücktrittsspekulationen der letzten Monate.

Doch die Abgeklärtheit dauert nur 1 Minute und 53 Sekunden. Als sie darauf zu sprechen kommt, dass sie sich auf Neues freue, vor allem auf Zeit mit ihrem Mann und ihrer Familie, überwältigen sie die Gefühle. Ihre Stimme zittert, sie kann kaum die Tränen zurückhalten. «Ich habe diese Arbeit gern gemacht und ich hoffe, Sie sind zufrieden mit meiner Arbeit», sagt sie, verzweifelt um Contenance ringend.

Die Super-Doris

Man kennt Doris Leuthard so nicht, so nah am Wasser gebaut. Sie ist doch die aufgestellte Sonnenkönigin, der alles ein bisschen leichter fällt. Die Ausnahmepolitikerin, die Menschen so schnell für sich einnehmen kann wie sonst kaum jemand. Die Super-Doris mit dem ansteckenden Lachen. Königin Doris I. von Merenschwand AG mit einer Bilderbuchkarriere.

Weitgehend unbekannt schaffte es die junge Juristin vor 20 Jahren ins Aargauer Kantonalparlament, zwei Jahre später in den Nationalrat. Der damalige Parteisekretär der CVP Aargau, Reto Nause (47), liess Tausende von Duschmittelbeuteln mit ihrem Porträt verteilen. Die «Aargauer Zeitung» titelte: «Duschen mit Doris», was zum inoffiziellen Wahlkampfslogan wurde.

Sie wusste die Bühne zu nutzen

Als Nationalrätin ging ihr Aufstieg unaufhaltsam weiter. Ihre grosse Stunde schlug am 10. Dezember 2003: Die CVP verlor mit Ruth Metzler (54) ihren zweiten Bundesratssitz und einen Teil ihrer Würde. Parteipräsident Philipp Stähelin (74) trat ab und überliess seiner Vizepräsidentin Leuthard die Bühne – und diese wusste sie zu nutzen: In weniger als zwei Jahren hatte sie die Partei wieder auf Kurs gebracht. Als dann CVP-Bundesrat Joseph Deiss (72) im Jahr 2006 zurücktrat, gab es nur eine natürliche Nachfolgerin – Doris Leuthard, die auf einem Einerticket in die Landesregierung einzog.

Erst übernahm sie das Volkswirtschaftsdepartement. Unter Leuthards Vorsteherschaft wurde das Freihandelsabkommen mit China eingefädelt, das ihr Nachfolger Johann Schneider-Ammann (66) abschliessen konnte. Ende 2010 wechselte Leuthard ins Umwelt-, Verkehrs-, Energie- und Kommunikationsdepartement (Uvek). Dort setzte sie sich – und der Schweiz – mit dem Gotthard-Basistunnel ein Denkmal monumentalen Ausmasses.

So erfolgreich wie kaum eine

Später leitete die einst als Atom-Doris betitelte Energieministerin zusammen mit den anderen Frauen im Bundesrat nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima 2011 den Atomausstieg ein. Vom Volk wurde sie darin später bestätigt. Überhaupt: Von 18 Volksabstimmungen in ihrer Bundesratskarriere verlor sie nur zwei – jene zur Zweitwohnungs-Initiative und jene zur Erhöhung des Vignetten-Preises.

Eine glanzvolle Bilanz – da fällt der Abschied schwer. Selbst dann, wenn man bedenkt, dass das Leben einer Bundesrätin nicht nur Glamour bedeutet, sondern harte Arbeit, lange Tage, kaum Privatsphäre. «Für die Bevölkerung hatte sie einen Heiligenschein», sagt ein ihr Nahestehender. «Die vielen Entbehrungen aber sieht niemand.»

Das grösste Opfer war die Familie

Die grösste Entbehrung für Leuthard war die Familie. Besonders zu ihrer Mutter Ruth (85) pflegt sie ein inniges Verhältnis, besucht sie, wann immer es geht. Und es ging wohl immer weniger, wenn man Leuthard glauben darf. Die Arbeit im Bundesrat habe sich verändert, sagt sie. Man sei viel mehr auf Reisen als vor zwölf Jahren. Ein Opfer, dessen Tragweite ihr vielleicht erst jetzt so richtig bewusst geworden ist: «Mein Mann, meine Mutter, meine Brüder sind zu kurz gekommen», sagt sie, und zum zweiten Mal an diesem Morgen kann sie die Tränen nicht zurückhalten.

«Ich bin eben nicht aus Teflon», sagt Leuthard nach der Medienkonferenz zu BLICK, schon wieder ganz gelöst. «Aber ich freue mich auf mein neues Leben.» Sie werde sicher nicht nur «privatisieren», lasse etwelches Engagement aber auf sich zukommen – nachdem sie im Januar ausgiebig Ferien gemacht haben werde, sagt sie wieder so strahlend, wie man sie kennt. Die CVP aber, die strahlt bald etwas weniger.

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