Der Auftritt der Schweizer Botschafterin Nadine Olivieri Lozano (49) im Iran gab am Mittwoch zu reden. Der Grund: Die Diplomatin hatte eine heilige Stätte in der iranischen Stadt Qom besucht – verschleiert. In den Augen der Regime-Kritiker legitimierte sie mit ihrem Auftritt das Mullah-Regime, das seit Monaten gewaltsam gegen Proteste der Bevölkerung vorgeht – und das den Auftritt der Botschafterin prompt für Propagandazwecke nutzte. Aber wie ist es überhaupt zu diesem verschleierten Besuch gekommen? Blick hat bei Maya Tissafi (58), Chefin der Abteilung Mittlerer Osten und Nordafrika im Aussendepartement EDA und ehemalige Botschafterin in Abu Dhabi, nachgefragt.
Weshalb ist es der Schweiz dienlich, angesichts der momentanen Situation im Iran zusammen mit Mullahs eine religiöse Stätte zu besuchen?
Maya Tissafi: Der Besuch galt einer akademischen Institution, die im Bereich des interreligiösen Dialogs arbeitet. Studierende vieler Länder, auch europäischer, studieren dort – 50 Prozent davon sind Frauen. Die Studierenden dieser Institution nehmen auch an interreligiösen Seminaren in der Schweiz teil. Die Schweizer Botschaft ist für die Ausstellung der Visa für die Studierenden verantwortlich. Es ist deshalb wichtig, dass unsere Vertreterin vor Ort diese Institution kennt. In diesem Zusammenhang hat Botschafterin Olivieri Lozano einer religiösen Stätte einen kurzen Besuch abgestattet. Der interreligiöse Dialog ist insbesondere im aktuellen Kontext von grosser Bedeutung, weil gerade interreligiöse Kreise Einfluss auf gesellschaftspolitische Themen haben. Ausserdem nutzt die Schweiz alle Kanäle, um den Dialog zu fördern und ihre Anliegen und Werte einzubringen.
Sendet Botschafterin Olivieri Lozano damit nicht ein Zeichen, das iranische Regime zu unterstützen?
Dem Iran ist die Schweizer Position bestens bekannt. Die Schweiz hat die gewalttätige Reaktion der Sicherheitskräfte auf die Proteste auf bilateraler und multilateraler Ebene mehrmals vehement verurteilt. Wir hatten erst kürzlich einen Dialog, in dem wir klar unterstrichen haben, dass wir uns für die Menschenrechte einsetzen. Insbesondere haben wir auch die Hinrichtungen von Personen, die an Protesten teilnehmen, kritisiert und das Recht auf einen fairen Prozess und das Recht auf freie Meinungsäusserung unterstrichen. Um ihr Amt als Botschafterin ausüben zu können, muss Olivieri Lozano auch ihr Gastland kennen – nicht nur Teheran. Dazu gehören Besuche ausserhalb der Hauptstadt. Eigentlich sind dies Standardaufgaben: Jeder unserer vorherigen Botschafter ist auch in Qom gewesen.
Mehrere Schweizer Politikerinnen und Politiker, darunter auch Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (77), kritisieren den Besuch. Sie spricht von einem «fragwürdigen Zeichen». Sie hätte auf den Besuch verzichtet.
Ich muss nochmals betonen, dass wir auf Dialog setzen und alle Kommunikationskanäle nutzen, die wir haben – trotz erheblicher Meinungsunterschiede mit dem Regime. Dies tun wir, um Menschenrechte und Frauenrechte anzusprechen. Botschafterin Olivieri Lozano ist auch dort gewesen, um die akademische Institution anzuschauen und den Kontakt herzustellen. Weil die Schweiz Visa vergibt, ist sie verpflichtet, diese Institution zu kennen.
Weshalb trug die Botschafterin einen Tschador und nicht einfach nur ein Kopftuch?
Das Tragen eines Kopftuchs ist im Iran Gesetz und nicht etwa eine kulturelle Empfehlung. Diplomatinnen müssen sich an die Gesetze des Gastlandes halten. Das erwarten wir auch in Bern oder Genf von Vertreterinnen und Vertretern anderer Staaten. Für die heilige Stätte, die Botschafterin Olivieri Lozano besuchte, gelten explizite Kleidervorschriften. Ein Ganzkörpergewand ist dort Vorschrift.
Ist sich die Botschafterin nicht bewusst, dass ein solcher Auftritt vom Regime zu Propagandazwecken verwendet werden kann?
Uns ist klar, dass jeder Schritt der Botschafterin von verschiedenen Seiten instrumentalisiert werden kann. Aber wir wollen uns dadurch nicht einschüchtern lassen. Wir setzen uns für einen Dialog mit allen Seiten ein. Es ist wichtig, kompetente Frauen in herausfordernden Kontexten einzusetzen. Ich unterstreiche dies, weil die Schweiz zum zweiten Mal eine Frau als Botschafterin in den Iran entsandt hat. Das ist ein starkes Zeichen gegenüber dem Iran, wo es insgesamt nur fünf Botschafterinnen gibt.