Es ist keine neun Jahre her, als ein Bild aus der Schweiz um die Welt ging. Es zeigte den damaligen Bundespräsidenten Didier Burkhalter (61) auf dem Perron des Bahnhofs Neuenburg, ganz allein inmitten von Pendlern im morgendlichen Berufsverkehr.
Schnell wurde es auf den sozialen Medien verbreitet, mit Kommentaren wie «Meine Damen und Herren: Die Schweiz». Wir brüsteten uns mit der Bescheidenheit und Normalität, waren stolz darauf, wie unbehelligt sich das höchste Mitglied der Regierung in der Öffentlichkeit bewegt – und wurden dafür bewundert.
Auch wenn nicht klar ist, ob Burkhalter damals nicht doch durch Bodyguards geschützt wurde: Ein solches Bild wäre heute wohl kaum mehr möglich.
Stattdessen wird Christoph Berger (59), Präsident der Impfkommission, entführt.
Die Drohungen nehmen zu
Für ein Mitglied der Landesregierung war die persönliche Bedrohung so akut, dass das Bundesamt für Polizei (Fedpol) der Magistratsperson empfahl, die Öffentlichkeit zu meiden. Später fand die Polizei beim Bedroher ein Waffenarsenal.
«Es gibt einen Bruch mit der Vergangenheit, in der man stolz war, dass auch die Bundesrätinnen einfach ins Tram stiegen oder der Bundesrat schnell auf den Markt geht, ohne dass immer jemand mit dem Knopf im Ohr dabei ist», sagte Fedpol-Chefin Nicoletta della Valle (61) diese Woche im «Tages-Anzeiger». «Wir mussten selbst merken: Das geht oft nicht mehr.»
Selbst Kinder unter Polizeischutz
Das hat auch mit der Pandemie zu tun. Viele Exponentinnen der Covid-Politik würden bedroht, so della Valle. «Und das in einem Ausmass, das wir bisher nicht kannten.» Hunderte Personen – Politiker, Beamte, Wissenschaftler – stehen unter Polizeischutz. Selbst deren Kinder müssen ihre Termine mit der Polizei absprechen.
Denn die Wutbürger sind entfesselt worden. Die Covid-Pandemie, so scheint es, hat einen Schalter umgelegt in manchen Köpfen. Hat Aggressionen freigesetzt, die vielleicht schon lange darin schlummerten. Nun brechen sie heraus.
Aber warum? Corona war sicher ein Katalysator. Weil unsere Freiheit kleiner war als gewohnt. Weil der Bundesrat uns herumkommandierte, obwohl doch hierzulande das Volk das letzte Wort hat. Aber auch, weil wir verunsichert waren. Ein Virus, das niemand kannte, bedrohte unser Überleben und Zusammenleben. Frust, Wut, Hass waren bei manchen Folge davon.
Das Übel war schon in der Büchse
Und doch greift diese Erklärung zu kurz. Der immense Hass, den eine gar nicht so kleine Minderheit entwickelte, lässt sich damit nicht erklären. Und er hätte mit der Beendigung der Corona-Massnahmen zum grossen Teil auch wieder verschwinden müssen.
Doch das passiert nicht. Die Wutbürger suchten sich das nächste Thema, erklärt auch die Fedpol-Chefin. Jetzt ist der Krieg in der Ukraine, es war auch schon die Abstimmung über die Pestizid-Initiative, was neu kommt, wird sich zeigen.
Corona hat die Büchse der Pandora vielleicht geöffnet. Das Übel aber war schon vorher darin.
Kollektives Empören schweisst zusammen
Studien geben den klassischen, aber auch den sozialen Medien eine Mitschuld. Die andauernde Empörungsbewirtschaftung auf der Suche nach immer mehr Klicks belohnt das Schüren von Unzufriedenheit. Und die Anonymität des Internets lässt Hemmschwelle sinken.
Auf Facebook, Telegram und Co. lässt man seiner Wut nicht nur freien Lauf, sondern stachelt sich gegenseitig an. Das kollektive Empören schweisst zusammen, und allzu oft schaukelt man sich gemeinsam über bislang gekannte Grenzen hinweg. Nicht nur bei klassischen Wutbürgern. Aus Missmut werden persönliche Beschimpfungen. Aus Beschimpfungen Drohungen.
Neudeutsch wird das Hate Speech genannt. Hassbotschaften im Netz, so schildert es della Valle, werden manchmal von Tausenden mitgelesen. Und wiegeln auf. «Da kann irgendwer inspiriert werden, zur Tat zu schreiten. Das sahen wir in Paris, als ein Lehrer umgebracht wurde. Der Täter sah auf Facebook einen Mordaufruf, den er dann umsetzte.»
Links und Rechts zündeln mit
Ganz unschuldig ist auch die Politik nicht. Links und Rechts haben in den letzten Jahrzehnten fleissig Öl ins Feuer gegossen. Sei es, dass die Juso 2009 im Abstimmungskampf zum Verbot von Waffenexporten ein Plakat präsentierte, das die damalige Wirtschaftsministerin Doris Leuthard (59) mit blutverschmierten Händen zeigte. Verantwortlich übrigens: der heutige SP-Co-Präsident Cédric Wermuth (36).
Sei es die SVP, die mit martialischen Kampagnen – erinnert sei an «Kosovaren schlitzen Schweizer auf» oder den wurmstichigen Apfel – die Grenzen der Diskussionskultur mehrfach überschritt und eigentlich verschob. Und noch heute zündeln Exponenten wie der Zürcher Nationalrat Roger Köppel (57) völlig bewusst gegen jede Art von Mainstream, die früher einmal als anständiges Bürgertum galt – und heute fast täglich als duckmäuserisches Spiessertum verunglimpft wird. Das auch, um sich im Glanz der fanatischen Fans zu sonnen. Und was der Roger kann, das kann ich doch auch. Schnell geht dabei vergessen, dass Köppel genau weiss, wie fest er an der Grenze des Legalen und Legitimen kratzen kann. Seine Verehrer nicht unbedingt.
Mohrenkopf und Gendersternchen
Doch es gibt auch noch eine andere Entwicklung. Sie hat zu tun mit political correctness, wokeness, und cancel culture. Auch die heute allgegenwärtige Forderung, sich nicht mehr nur politisch korrekt, sondern jederzeit engagiert gegen rassistische, sexistische, soziale Diskriminierung zu äussern, hat Folgen.
Es ist noch nicht so lange her, da war es normal, Mohrenkopf zu sagen oder das «Fräulein» zu rufen. Heute diskutieren wir über Gendersternchen.
Nichts daran ist falsch. Und doch verunsichert es jene, die im gleichen Atemzug als «alte weisse Männer» beschrieben werden. Und wie die Verunsicherung durch Corona reizt auch diese Unsicherheit verschiedene Menschen – manchmal bis aufs Blut. Bis zum Punkt, wo ein Sturm aufs Bundeshaus plant wurde, nach amerikanischem Vorbild.
Keine Zeiten, um als Bundesrat wie damals Didier Burkhalter allein auf dem Perron zu stehen. Oder doch? Letzthin machte Bundesrätin Simonetta Sommaruga (61) Schlagzeilen. Sie hatte zwei Anhalterinnen in ihrem Privatauto mitgenommen. «Meine Damen und Herren: Die Schweiz.» Hoffentlich weiterhin und wieder mehr davon.