Völlig unvermittelt wird eine muslimische Frau im Lebensmittelgeschäft beschimpft: «Diese Kopftücher wollen nur unser Geld, warum sind die überhaupt hier? Hau ab!» Andere Kunden schauen zu – und schweigen.
Ein Küchenchef ruft einen Mitarbeiter wegen seiner Herkunft nur «Taliban». Irgendwann nennt ihn das ganze Team so.
Eine Frau schimpft über die «Affenkinder» der Nachbarn und denunziert die Familie mit falschen Anschuldigungen bei der Hausverwaltung. Worauf der Vermieter den Vertrag aufkündigt. Erst vor der Schlichtungsstelle wird der Rauswurf wegen Missbräuchlichkeit aufgehoben.
Drei Beispiele von Rassismus im Schweizer Alltag, nachzulesen im Jahresbericht 2019 der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR). Registriert werden dort nur Fälle, die spezialisierten Beratungsstellen gemeldet werden. Im vergangenen Jahr waren es 352. So viele wie noch nie.
«Mehrzahl nie gemeldet»
Für ERK-Präsidentin Martine Brunschwig Graf (70) ist das nur die Spitze des Eisbergs. «Es ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der rassistischen Vorfälle in der Schweiz nirgends gemeldet oder bearbeitet wird», sagt die ehemalige Genfer FDP-Nationalrätin.
Körperliche Angriffe, Sachbeschädigung, Beschimpfung, Mobbing, Verleumdung oder Racial Profiling: Rassismus und Diskriminierung haben viele Formen. Neben einer generellen Fremdenfeindlichkeit registriert die ERK vor allem Rassismus gegen Schwarze (132 Fälle). Auf Platz drei folgt Feindlichkeit gegen Muslime (55).
Vorfälle mit Rechtsextremen haben zugenommen
Und gerade auch Vorfälle mit rechtsextremem Hintergrund haben 2019 erstmals deutlich zugenommen. «Wie die Ereignisse im Ausland zeigen, muss diese Tendenz ernst genommen werden und darf nicht unterschätzt werden», so Brunschwig Graf.
Rassismus gibt es überall. Die meisten Fälle aber werden im öffentlichen Raum (62 Fälle) und am Arbeitsplatz (50) registriert. Oft genannt werden auch die Nachbarschaft (43), die Schule (39) oder die Verwaltung (37).
Für Brunschwig Graf zeigen die Zahlen vor allem eines deutlich auf: Die Kantone müssen die finanziellen Mittel für die Bekämpfung von Rassendiskriminierung unbedingt erhöhen und die Beratungsangebote weiter ausbauen.
Rassismus pfui ...
Dabei sind Herr und Frau Schweizer alles andere als rassistisch. Zumindest wenn man sie direkt fragt. Vor zwei Jahren führte das Bundesamt für Statistik eine Umfrage zum Zusammenleben in der Schweiz durch. Über die Hälfte der Befragten (55 %) fand, dass die Integration von Migranten gut bis sehr gut funktioniere. Ausländer seien für die Wirtschaft und die Finanzierung der Sozialwerke nötig, meinten 64 Prozent.
Rassismus wird auch als «ernstes gesellschaftliches» Problem wahrgenommen. Rund 59 Prozent der Befragten bejahten eine entsprechende Frage. Und unterstützen die Forderung von Brunschwig Graf: Dass Bund, Kantone und Gemeinden sich stärker engagieren sollen im Kampf gegen Rassismus.
... Rassismus hui
Doch es gibt auch eine andere Seite. 2018 fühlten sich 34 Prozent der Bevölkerung durch die Anwesenheit von Personen, die – aufgrund ihrer Nationalität, Religion oder Hautfarbe – als «anders» empfunden werden, «gestört», heisst es im Bericht. Von diesen 34 Prozent ärgert sich mehr als jeder Fünfte über Fahrende. An Hautfarbe und Nationalität stören sich «nur» je sieben Prozent. Doch das sind rund 200'000 Personen.
Wie verankert Rassismus auch in der Schweiz ist, zeigen die «Einzelfälle»: Schwyzer Fasnächtler, die verkleidet als Ku-Klux-Klan einen Fackelumzug durchführen, und die Basler Fasnachtsclique Negro-Rhygass, die erst nach Kritik auf ihr Logo verzichtet, den Namen aber behält. Oder Politiker wie der SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor (56), der zwar wegen Rassendiskriminierung verurteilt wurde, sonst aber keinerlei Sanktionen fürchten muss – Addor sitzt weiterhin im Nationalrat und vertritt dort das Volk. Ihre Fälle kamen an die Öffentlichkeit, viele weitere bleiben verborgen.