Auf einen Blick
- Bundesrat lehnt Inklusions-Initiative ab, plant aber Gesetzesanpassung für Behindertenrechte
- Initiative fordert Gleichstellung in allen Lebensbereichen, Bundesrat sieht Rechtsunsicherheit
- 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen leben in der Schweiz
Der Bundesrat lehnt die von Behindertenorganisationen eingereichte Inklusions-Initiative ab. Zur Stärkung der Rechte will er aber eine Gesetzesanpassung vornehmen, wie Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (69) am Montag vor den Medien sagte. Was plant der Bundesrat genau? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick:
Wie steht es heute um die Behindertenrechte?
In der Schweiz leben rund 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen. Laut verschiedenen Verbänden von Betroffenen sind diese im Alltag Diskriminierungen ausgesetzt – sei es beim Wohnen, bei der Arbeit oder im öffentlichen Verkehr. Beispielsweise sind noch nicht alle Bahnhöfe in der Schweiz hindernisfrei. «Die komplette Inklusion ist noch nicht Realität», sagte Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider am Montag in Bern vor den Medien. Heute sind Menschen mit Behinderungen nur bei öffentlich angebotenen Dienstleistungen und in Arbeitsverhältnissen nach dem Bundespersonalgesetz vor Benachteiligungen geschützt. Ziel müsse es sein, dass Menschen mit Behinderungen ein möglichst unabhängiges Leben führen können, sagte Baume-Schneider.
Was fordert die Inklusions-Initiative?
Im September reichte die Trägerschaft der Inklusions-Initiative 108'000 gültige Unterschriften ein. Die Volksinitiative fordert die effektive Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderungen in allen Lebensbereichen. Konkret sollen Menschen mit Behinderungen im Rahmen der Verhältnismässigkeit Anspruch auf die nötigen Unterstützungs- und Anpassungsmassnahmen erhalten. Insbesondere sollen sie das Recht haben, ihre Wohnform und ihren Wohnort frei zu wählen.
Warum lehnt der Bundesrat die Initiative ab?
Laut Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider lässt die Initiative einen zu grossen Interpretationsspielraum. «Dies könnte zu Rechtsunsicherheit und Missverständnissen führen.» Zudem brauche es keine Anpassung der Verfassung, weil diese die Rechte von Menschen mit Behinderungen schon genügend berücksichtige. Ausserdem habe der Bund nur sehr beschränkte Kompetenzen, um Massnahmen zur Gleichstellung schweizweit vorzuschreiben. Die Hauptverantwortung liege bei den Kantonen.
Was schlägt der Bundesrat denn sonst vor?
Der Bundesrat schlägt ein mehrgleisiges Vorgehen vor. Erstens sollen in einem neuen nationalen Gesetz die Ziele und Prinzipien von Bund und Kantonen in der Behindertenpolitik verankert werden. Die bestehenden Massnahmen auf Kantonsebene, insbesondere im Bereich Wohnen, sollen harmonisiert werden. Konkret sollen die Kantone ein vielfältiges Angebot an Unterstützungsmöglichkeiten bereitstellen sowie den Zugang zu preisgünstigen und hindernisfreien Wohnungen fördern und betroffene Personen bei der Wahl ihrer Wohn- und Lebensform beraten. Zweitens soll eine kleine IV-Revision Betroffenen den Zugang zu modernen Hilfsmitteln wie Hörgeräten und Prothesen erleichtern. Zudem soll der Assistenzbeitrag ausgebaut werden. Damit können Personen, die auf regelmässige Hilfe angewiesen sind, aber dennoch zu Hause leben möchten, eine Person einstellen, welche Unterstützung leistet.
Ist es damit getan?
Nein, das Parlament wird als Nächstes über eine Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes entscheiden. Auch diese greift Forderungen der Initiative auf und will den Geltungsbereich des bestehenden Gesetzes erweitern. Beispielsweise sollen die drei Gebärdensprachen rechtlich anerkannt werden. Zudem soll der Schutz vor Diskriminierung ausgebaut werden und neu alle öffentlich- und privatrechtlichen Arbeitsverhältnisse umfassen. Auch der Zugang zu Dienstleistungen, die von Privaten erbracht werden, soll barrierefrei werden. Arbeitgeber und Dienstleister sollen verpflichtet werden, «angemessene Vorkehrungen» zu treffen, um Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen zu verringern, beispielsweise durch die Einführung flexiblerer Arbeitszeiten. Rechtsansprüche sollen eingeklagt werden können.
Was ist langfristig geplant?
Der Bundesrat plant eine grössere IV-Reform. Geprüft werden «Massnahmen, um das Wachstum der Neurenten einzudämmen, Massnahmen zur Optimierung der Leistungen, einnahmenseitige Massnahmen zur Stabilisierung des IV-Haushalts sowie Massnahmen zur Entschuldung der IV». Bis im Herbst 2025 soll es konkreter werden. Daneben ist ein Aktionsplan für gehörlose Menschen geplant. Dieser soll bis Ende 2025 zusammen mit den Kantonen und den Betroffenenorganisationen erarbeitet werden.
Warum unterstützt der Bundesrat nicht die Initiative?
Mit dem Vorgehen des Bundesrats können die Rechte von Menschen mit Behinderungen und deren Umfeld rascher und konkreter verbessert werden als mit der Inklusions-Initiative, wie Bundesrätin Baume-Schneider sagte.
Was kostet das bundesrätliche Paket?
Das Massnahmenpaket hat keine grossen finanziellen Auswirkungen. Für die bei der IV-Revision geplante Förderung von Hilfsmitteln sollen vier bis elf Millionen Franken zur Verfügung stehen. Die Mehrkosten für Arbeitgebende und Dienstleistende müssen laut dem Bundesrat verhältnismässig sein.
Wie reagieren die Betroffenen?
Der Dachverband Inclusion Handicap begrüsst das Vorgehen des Bundesrats grundsätzlich. Dieser habe beim Behindertengleichstellungsgesetz nachgebessert und gehe mit einem Inklusionsgesetz in die richtige Richtung. Trotzdem brauche es die Inklusions-Initiative, «um endlich den entscheidenden Schritt in Richtung tatsächliche Gleichstellung zu tun». Insbesondere im öffentlichen Verkehr bleibe die Situation unhaltbar. Der Schweizerische Gehörlosenbund (SGB) kritisiert das Vorgehen des Bundesrats scharf. Er fordert ein Spezialgesetz zu den Gebärdensprachen - statt deren Integration in das Behindertengleichstellungsgesetz. «Sprachen sind keine Behinderung!», titelte die Organisation in einer Mitteilung.