84 Prozent Nein zur Begrenzungsinitiative der SVP, 78 Prozent Ja für den Vaterschaftsurlaub. Das sind nicht Resultate aus linken Wunschträumen, sondern die Stadtberner Ergebnisse bei den Abstimmungen vom September. Bern ist links. Sehr links.
Seit 1992 Jahren wird die Bundesstadt von einem Rot-Grün-Mitte-Bündnis (RGM) regiert. Wobei das M im Namen vor allem historisch bedingt ist, faktisch ist das Bündnis rot-grün und besteht aus SP, Grünen und der Grünen Freien Liste (GFL). Bern wird daher gern als «rot-grüne Wohlfühloase» betitelt – aktuell vom Journalisten Jürg Steiner, der die 30 Jahre RGM in Buchform unter die Lupe genommen hat.
Zwei Männer in den Startlöchern
Doch gemessen an den Wähleranteilen ist Rot-Grün in der Stadtregierung mit vier von fünf Sitzen übervertreten. Und es ist gut möglich, dass die Übermacht an diesem Sonntag bricht. Wenn die Wählerstärken bleiben wie vor vier Jahren, haben die Bürgerlichen echte Chancen, einen Sitz zurückzuholen. 2016 musste die FDP ihren Sitz vor allem einbüssen, weil sie sich nicht mit der SVP zusammenraufen wollte. 2020 nun gibt es eine gemeinsame Liste: das Bübü – bürgerliche Bündnis.
Auf dieser Liste haben zwei Männer Chancen. FDP-Mann Bernhard Eicher (37) und alt Nationalrat Thomas Fuchs (54, SVP). «Eigentlich müssen wir diesen Sitz holen», sagt Fuchs. Und auch Eicher gibt sich siegessicher. Er gilt als der aussichtsreichere Kandidat – selbst schätzt er seine Chancen auf «fifty-fifty».
Nause im Scheinwerferlicht
Doch auf wessen Kosten würde dieser Sitz gehen? In der Defensive ist Gemeinderat Reto Nause (49). Dessen CVP ist mit zwei Sitzen im 80-köpfigen Stadtparlament in der Stadt Bern quasi inexistent. Zudem hat Sicherheitsdirektor Nause schon so manche Kämpfe mit Reitschülern bis hin zu Klimaaktivisten ausgefochten. Was im linken Bern nicht gut ankommt.
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Doch Nause hält sich schon seit zwölf Jahren in der Stadtregierung und wurde schon mehrfach zum «Panaschierkönig» gekrönt. Auf der zusammengewürfelten Liste von CVP, BDP und GLP dürften seine Chancen als Bisheriger besser sein als diejenigen von BDP-Kandidat Claudio Righetti und GLP-Kandidatin Marianne Schild. Righetti ist in Bern zwar bekannt. Er versucht immer wieder, Glamour in die Beamtenstadt zu holen, etwa als er 2014 die Miss-Schweiz-Wahlen auf dem Bundesplatz organisierte. Politisch ist der Netzwerker aber ein unbeschriebenes Blatt.
SP muss zittern
Doch nicht nur Nauses Sitz wackelt. Gut möglich, dass die SP Federn lassen muss. Finanzdirektor Michael Aebersold (58) hat zwar den Bisherigen-Bonus, ist wegen seiner Finanzpolitik aber nicht unumstritten. Seine Listengefährtin Marieke Kruit (52) ist Fraktionschefin im Stadtrat und tritt an, den Sitz der abtretenden Ursula Wyss (47) zu verteidigen. Sie galt lange nicht als Wunschkandidatin der SP, doch bekanntere Namen wie die Nationalrätinnen Nadine Masshardt (36) und Flavia Wasserfallen (41) wollen sich lieber auf die Bundespolitik konzentrieren.
Chancenlos ist Kruit deshalb noch lange nicht. Der politische Gegner Thomas Fuchs von der SVP räumt ihr gar bessere Chancen ein als Aebersold. «Sie ist gut vernetzt und hat als Frau auf der SP-Liste Vorteile», findet der. Denn sollte Kruit den Sprung in den Gemeinderat verpassen, wäre Franziska Teuscher (62) von den Grünen die einzige verbleibende Frau. Eben mit diesem Argument hat sich kürzlich das «Berner Frauenkomitee» gegründet – mit der expliziten Forderung, Kruit und Teuscher zu wählen.
Machtverhältnisse wanken
Selbst wenn die SP einen Exekutiv-Sitz einbüssen muss, bleibt Rot-Grün in der Mehrheit. Und auch im Stadtparlament, das ebenfalls neu gewählt wird, wird es die Übermacht behalten.
Und dann ist da noch Stadtpräsident Alec von Graffenried (58). Er ist in der Berner Kleinstpartei GFL. Diese gehört auf kantonaler Ebene zwar zu den Grünen, kocht lokal aber ihr eigenes Süppchen und gibt dem rot-grünen Bündnis eben doch etwas Mitte-Salz zurück.
Im Stadtrat ist es oft die GFL, die das Zünglein an der Waage spielt, wenn sich die bürgerlichen und linken Mächte in die Haare geraten. Gut möglich, dass von Graffenried das künftig häufiger tun wird.