Zahlreiche Leute unter der Bundeshauskuppel wissen, dass die Äusserungen des Genfer FDP-Nationalrats Christian Lüscher (58) manchmal grenzwertig sind. Und manchmal Grenzen überschreiten. Wenn sein spezieller Humor durch die Gänge des Bundeshauses hallt, ist es vielen unwohl.
Ein Weggefährte nimmt ihn hingegen in Schutz: Seine Witze fielen oft nach Diskussionen am späten Abend, nach einem harten Tag in der Politik. Gewählte Politiker hätten, wie jeder andere Bürger auch, ein Recht auf diese Momente der Entspannung.
«Wie bei allen Säugetieren»
Doch jetzt sind vor allem Äusserungen Stein des Anstosses, die in einer beruflichen Chatgruppe gefallen sind. In dieser koordinieren sich Parlamentarier und Parteifunktionäre zu parlamentarischen Themen.
Blick liegen die Nachrichten aus der Whatsapp-Gruppe der lateinischen FDP-Fraktionsmitglieder vor. Und es stellt sich die Frage, ob man es quasi als Stressabbau abtun kann, wenn Lüscher darin FDP-Vizechef Philippe Nantermod (38) auffordert, «Kinder von den Weibchen hüten zu lassen, wie bei allen Säugetieren». Oder wie soll man es einordnen, wenn er Isabelle Moret (51), die neu gewählte Waadtländer Staatsrätin, auffordert, sie solle «aufhören, die arbeitenden Männer zu nerven» und wieder «abstauben»?
Dass Lüscher die Freiburger Ständerätin Johanna Gapany (33) und die Nationalrätin Simone de Montmollin (53) fragte, ob sie von der Tradition wüssten, «dass die neu gewählten FDP-Frauen am Tag der Vereidigung nackt in die Aare springen und bis zum Bärengraben schwimmen» müssen, spricht für sich.
Problematische Spitznamen
Für eine grosse Mehrheit der befragten FDPler ist klar, dass solche Aussagen in einem beruflichen Umfeld nicht angehen. Das störende Verhalten Lüschers geht aber noch weiter. Er belegt seine Kolleginnen und Kollegen mit Spitznamen, die ihnen seither anhaften. Der gutmütige FDP-Nationalrat Laurent Wehrli (57) wurde in «Gros-de-Vaud» umbenannt. Der Spitzname spielt auf Wehrlis Körperumfang an. Parteivize Nantermod bekam den Spitznamen «Tournicoton», der auf seine angebliche Hyperaktivität abzielt.
Am schlimmsten aber treffe es Fathi Derder (51), «dessen Vater Algerier ist», sagt eine Quelle, die nicht namentlich genannt werden will. «Christian nannte ihn ‹le bougne›, für ‹le bougnoule›.»
Dazu muss man wissen: Der Journalist und ehemalige FDP-Nationalrat Derder wird vermutlich in Anspielung auf seine algerischen Wurzeln als «bougne» bezeichnet. Das ist ein extrem abwertender Begriff, der sich nicht so einfach ins Deutsche übersetzen lässt. Mit ihm werden Nordafrikaner aufs Gröbste verunglimpft. Die Beschimpfung geht viel weiter als die Beleidigung «Kameltreiber» und ist sehr nahe am N-Wort.
«Völlig unangebracht»
Sobald Blick Fragen zum Verhalten des Genfer «Parteifreunds» stellt, werden die freisinnigen Parlamentarier schmallippig. Werden sie mit den beschriebenen Whatsapp-Nachrichten konfrontiert, steigt das Stresslevel hörbar.
Dass Frauen in der Gruppe zu Hausfrauen degradiert oder gar als Objekt abgestempelt werden, ist schlimm genug. Doch die Beschimpfung Derders hat gar rassistische Züge. Doch statt Lüscher in den Senkel zu stellen, schweigt man.
Ein Informant, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, sagt: «Christians Nachrichten sprechen für sich selbst.» Unabhängig von der politisch-korrekten Zeit, in der wir leben, könne man sich nicht einfach so über Frauen lustig machen. Das sei völlig unangebracht, vor allem in einem politischen Kontext. «Wir sind keine Clique von Freunden und Freundinnen, auch wenn es zwischen manchen Personen sehr gute Verbindungen geben mag.» Und er gesteht ein: «Ich war vielleicht feige, aber ich habe mich nie getraut, zu reagieren.»
«Er wird Sie aufschlitzen»
Diese Quelle ist nicht die einzige, die nie einen Finger rührte gegen Lüscher. Das hat gute Gründe: Lüscher war 2009 einer der beiden offiziellen Bundesratskandidaten für die Nachfolge von Pascal Couchepin (80). Er ist ein bekannter Wirtschaftsanwalt in Genf. Er beeindruckt und jagt anderen Angst ein, wie viele seiner Kollegen zugeben. «Er ist ein intellektuell brillanter Mensch mit einer extrem schnellen Rhetorik», sagt ein Vertrauter. «Wenn Sie versuchen, sich einzumischen, wird er Sie aufschlitzen. Er liebt es, das zu tun. Er lebt davon.»
Der eingangs erwähnte Weggefährte Lüschers schränkt ein: «Er ist ein Genfer Topmanager, der sich als Rudelführer aufspielt. Aber niemand ist gezwungen, ihn zu akzeptieren!» Jeder könne zu ihm gehen, wenn er sich unwohl fühle, und ihm das sagen. «Ich verstehe, dass einige seiner Äusserungen verletzend oder schockierend waren – und das schmerzt mich –, aber man muss sie in den richtigen Kontext stellen», findet er.
Kugelschreiber verschwunden
Dennoch ist das Unbehagen auch beim Weggefährten spürbar: «Trotz allem ist es bedauerlich, dass er diese Äusserungen schriftlich in einer Gruppe gemacht hat, die wir als privat bezeichnen würden, auch wenn sie etwa 20 Personen umfasst.» Lüscher könne nicht davon ausgehen, dass jeder denselben Humor habe wie er.
Ein seltsamer Humor, wenn Lüscher über Derder schreibt: «Wo ist der Bougn? Ich hatte einen silbernen Kugelschreiber und er ist verschwunden.»
Derder kannte den Spitznamen
Weiss Fathi Derder, wie ihn Lüscher bezeichnete? Ja, versichern verschiedene Quellen: «Christian hat ihm den Namen in der Cafeteria vor allen anderen an den Kopf geworfen», sagt einer. Er kenne keine Grenzen. Hat das zu Auseinandersetzungen in der Partei geführt? «Nicht, dass ich wüsste.»
Blick hat den ehemaligen Nationalrat gefragt, was er von seinem Spitznamen halte. Derder sagt nur, er sei gerade dabei, fürs Westschweizer Radio RTS eine Sendung vorzubereiten. Er kommentiere die Politik nicht mehr.
Für Lüscher war alles privat
Mit den anonymen Vorwürfen konfrontiert, bestreitet Lüscher, dass die Whatsapp-Gruppe einen beruflichen oder politischen Charakter habe. «Es handelt sich um eine Gruppe von Freunden, die wir nutzen, um zu lachen oder ein Feierabendbier zu trinken», sagt er. Es handle sich dabei nicht um die Gruppe, die zur Koordinierung von Abstimmungen verwendet werde.
Was die Spitznamen angeht, versichert Lüscher, dass diese «wohlwollend» gemeint seien und er selbst ja auch einen solchen habe: «Der alte Mann». Andere nenne man «Pinochet» oder «Brutus».
Aber «Bougne»? Das komme nicht von «bougnole», so Lüscher. Denn das würde ja gar nicht zu Fathi Derders Herkunft passen, der Oberwalliser und Perser sei. Letzteres stimmt jedoch nicht, Derder hat einen algerischen Vater.
«Es ist ein liebevoller Spitzname, der vor mehr als zehn Jahren entstanden ist», so Lüscher. «Alle nannten ihn so, auch die Deutschschweizer!» Abgesehen davon, so der Genfer Nationalrat, hätte sich jemand, der sich durch die Aussagen und Spitznamen verletzt gefühlt habe, melden oder die Gruppe ja verlassen können.
«Sie wollen nur Quote machen!»
«Wenn ich mit Freunden in einer Gruppe bin und etwas erhalte, das mich schockieren könnte – wie beispielsweise das Foto einer nackten Frau – würde ich sagen: ‹Leute, hört auf, ihr geht zu weit. Ich gehe›.»
Lüscher wirft Blick vor: «Sie denken sich diese Vorwürfe nur aus, um Quote zu machen. Noch einmal: Niemand wurde jemals gezwungen, in dieser Gruppe zu sein, und diese hat keine berufliche, politische oder offizielle Funktion!» Spitznamen und Nachrichten bestreitet Lüscher somit nicht.