Branche reagiert auf Glarner-Forderung
«Man kann nicht dem Ausland Fachpersonal abjagen»

Mit mehr Personal aus dem Ausland sollen die Spitalkapazitäten aufgestockt werden, um der Corona-Krise zu begegnen, fordert SVP-Nationalrat Andreas Glarner. Das ist aber nicht machbar, ist man sich im Gesundheitswesen einig – und obendrein «ethisch nicht vertretbar».
Publiziert: 24.08.2021 um 21:43 Uhr
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In der Schweiz drohen die Spitalkapazitäten wegen Corona-Patienten wieder knapp zu werden.
Foto: Keystone
Gianna Blum

Ausgerechnet die SVP spricht sich für mehr Zuwanderung aus? Im Fall des Aargauer Parteipräsidenten Andreas Glarner (58) ist das tatsächlich der Fall. In der Corona-Krise ist sogar der Migrations-Hardliner offen für Personal aus dem Ausland. «Längerfristig muss man mit dem Virus leben und dafür die Spitalkapazitäten aufstocken», sagt er im Streitgespräch mit dem Aargauer Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati auf Blick TV. Dafür gelte es, Personal aus dem Ausland zu holen.

«Realitätsfremde Phantasie»

Ein Vorschlag, der in der Branche Kopfschütteln auslöst – bestenfalls. Am schärfsten ist die Reaktion aus Aarau selbst: Für Christoph Fux, Chefinfektiologe am Kantonsspital, ist er «eine realitätsfremde Phantasie basierend auf der Fehleinschätzung, dass man gesellschaftliche Verantwortung an Spezialisten delegieren kann». Denn Prävention sei besser als Behandlung, das zeigten die Fallzahlen klar. «Herr Glarner hat wahrscheinlich auch dafür plädiert, die Intensivplätze auszubauen, statt ein Helm- und Gurtenobligatorium einzuführen.»

Wenig begeistert ist auch Anne-Geneviève Bütikofer, Direktorin des Spitalverbands H+. «Spitäler und Kliniken können nicht einfach nach Belieben mehr Intensivpflegeplätze schaffen», sagt sie – denn der finanzielle Spielraum sei durch Kostendruck und staatliche Vorgaben beschränkt.

Das Personal werde zudem im Ausland genauso gebraucht wie in der Schweiz. «Es geht nicht, einfach per Inserat mit dem Geldbeutel zu wedeln, und die benötigten Leute kommen in die Schweiz», kritisiert Bütikofer. Zudem wäre es «ethisch nicht vertretbar und ein politischer Affront, dem Ausland so das dort benötigte Fachpersonal abzujagen».

Schweiz ohnehin abhängig

Dass es der Schweiz an Pflegepersonal fehlt bemängelt auch der Berufsverband der Pflege (SBK). Um dagegen anzukämpfen, fordert die Pflege-Initiative des SBK, die am 28. November zur Abstimmung kommt, unter anderem eine Ausbildungsoffensive und bessere Löhne. «Ohne Kollegen und Kolleginnen mit ausländischem Diplom könnte die Schweiz ihr Gesundheitswesen schon heute längst nicht mehr aufrechterhalten», sagt SBK-Geschäftsführerin Yvonne Ribi (44). «Ich bin sehr überrascht, will Herr Glarner diese Abhängigkeit noch steigern.»

Tatsächlich stammt mehr als ein Drittel des Pflegepersonals heute aus dem Ausland. Ein Inserat in Deutschland zu schalten und «dann läuft euch die Mailbox über», wie Glarner es sich vorstellt, dürfte also scheitern. Vor allem, so Ribi, werde das längst gemacht. «Aber der Markt ist im Ausland genauso ausgetrocknet wie hierzulande. Je spezialisierter die Fachkräfte – wie etwa in der Intensivpflege –, umso gravierender der Mangel.» Umso wichtiger sei es, in der Schweiz selbst zu handeln und in bessere Ausbildung und Arbeitsbedingungen zu investieren.

Ins gleiche Horn stösst auch Elvira Wiegers von der Gewerkschaft VPOD. Es brauche jetzt nachhaltige Lösungen, um den Exodus zu stoppen, sagt sie – denn 40 Prozent der Pflegefachpersonen stiegen wegen schlechten Löhnen und Arbeitsbedingungen wieder aus. Die Pandemie habe dieses Problem noch zugespitzt. «Umso länger Arbeitgeber und Politik nicht genau dies konsequent angehen, umso weniger werden übrigens auch – bei allem Respekt – die ausländischen Kolleginnen und Kollegen diesen Missstand ausgleichen können.»


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