Der Klimajugend reicht es. Weil die Schweiz zwar ein Klimaziel, aber aus ihrer Sicht keinen genügenden Plan hat, legen nun die Aktivisten vor. «Wir wollen der Politik zeigen, dass man das, was sie jahrelang nicht geschafft hat, machen kann», sagt Lena Bühler (17) vom Klimastreik. Die Gymischülerin aus Bern hat ein Jahr mit zahlreichen Gschpänli, Experten und Wissenschaftlern an dem mehr als 350 Seiten starken Klimaaktionsplan gearbeitet, der heute veröffentlicht wird.
Die Schweiz ist in Sachen Klimaschutz keine Musterschülerin. Seit 1990 haben sich die Schweizer CO2-Emissionen versechsfacht. Die Klimastreikbewegung fordert bis 2030 netto null, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Ihr Klima-Aktionsplan funktioniert wie eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für eine klimaneutrale Schweiz: In zwölf Kapiteln und 143 Massnahmen listen die Autoren detailliert auf, wie das bis 2030 gelingen soll – obwohl sich die Schweiz dieses Ziel erst bis 2050 gesetzt hat.
«Man muss so schnell wie möglich so viel wie möglich davon umsetzen», sagt Reto Knutti (47), Klimaphysik-Professor an der ETH Zürich. «Das 1,5-Grad-Ziel ist unter den gegebenen politischen Strukturen blauäugig. Aber es wäre gefährlich, das Handtuch zu werfen. Man muss nur diskutieren, was wir jetzt und was wir in fünf oder zehn Jahren umsetzen.»
BLICK macht für zehn der drastischsten Vorschläge der Klimastreik-Bewegung den Realitätscheck.
1. Baustopp
Idee: Neubauten sind ab sofort nur noch erlaubt, wenn sie mehr Treibhause reduzieren, als sie ausstossen. Infrastruktur ist erlaubt, wenn sie an anderer Stelle CO2 einspart: Velowege, Windturbinen, Technologie-Produktionsstätten.
Realitätscheck: Investitionen in «grüne» Infrastruktur müssten den Neubau-Stopp mindestens ausgleichen, um eine Rezession zu vermeiden. Bauverbote dürften auf demokratischem Weg allerdings Jahre dauern.
2. Klimabank
Idee: Eine öffentliche, nicht-profitorientierte Klimabank stellt Kredite für den Umbau bereit – etwa für Architekturbüros, Solarinstallateure etc. Banken dürfen ab 2030 keine klimaschädlichen Kredite mehr vergeben und müssen jährlich zum «Klima-Test».
Realitätscheck: Sabine Döbeli, CEO Swiss Sustainable Finance: «Die grösste Herausforderung ist nicht die Finanzierung, sondern die Planung und Umsetzung entsprechender Projekte.»
3. Fahr- und Flugverbote
Idee: Keine Autos mehr in Schweizer Städten. Aus für Benzin, Diesel und fossilen Strom ab 2030. Kurzstreckenflüge sind verboten, wenn man das Ziel auch in acht Stunden (ab sofort) beziehungsweise 24 Stunden (ab 2030) mit dem ÖV erreichen kann. Bis 2030 fliegen Flugzeuge mit 100 Prozent synthetischen Kraftstoffen.
Realitätscheck: Die Umstellung gilt vor allem als Kostenfrage, auch bei Flugzeugen. So günstig wie heute fossile Brennstoffe sind, sind synthetische Alternativen vermutlich erst bis 2050 vorhanden.
4. Pendeln reduzieren
Idee: Der Pendlerabzug bei den Steuern wird reduziert, und es gibt ein Verbot von neuen Arbeitsplätzen in den Stadtzentren. Stattdessen werden ländliche Gebiete aufgewertet.
Realitätscheck: Es ist sinnvoll, dass Menschen vermehrt dort arbeiten, wo sie wohnen – oder umgekehrt. Die Digitalisierung – beschleunigt durch Corona – ermöglicht das. Städteplanerin Fabienne Hoelzel (44) ist jedoch skeptisch, ob urbane Zentren je wirklich an Attraktivität verlieren.
5. Vegane Kantinen
Idee: Der Konsum von Fleisch- und Milchprodukten sowie importierten Lebensmitteln wird reduziert. Öffentliche Kantinen, etwa in Schulen und Spitälern, kochen ausschliesslich vegan, möglichst lokal und saisonal.
Realitätscheck: Regina Fuhrer (61), Präsidentin Kleinbauernvereinigung: «Wir teilen die Meinung, dass die Ernährungsgewohnheiten umgestellt werden müssen und der Fleischkonsum reduziert werden muss. Im Grasland Schweiz macht der Konsum von Rindfleisch aber Sinn.»
6. Mega CO2-Steuer
Idee: Klimasünder zahlen pro Tonne CO2-Ausstoss 525 Franken. Das Geld fliesst in Projekte zur Reduzierung von Emissionen.
Realitätscheck: Mit dem überarbeiteten CO2-Gesetz wird die Lenkungsabgabe auf bis zu 210 Franken/Tonne erhöht. ETH-Wirtschaftsprofessor Jan-Egbert Sturm (51): «Die Steuer sollte die externen Effekte widerspiegeln, die durch den Verbrauch von CO2 entstehen. Welche Höhe angemessen ist, ist schwer zu sagen.»
7. Vier-Tage-Woche für alle
Idee: Ab sofort hat die Arbeitswoche einen Tag weniger, die Wochenarbeitszeit beträgt langfristig nur noch 24 Stunden. Das reduziert unter anderem den Kohlenstoffausstoss im Wirtschaftssystem.
Realitätscheck: «Eine Vier-Tage-Woche wird nicht zu weniger Produktion führen. Sie würde mehr Schichten in Fabriken oder Detailhandelsgeschäften implizieren», sagt Wirtschaftsprofessor Sturm.
8. Stimmrechtsalter 14
Idee: Weil Junge vom Klimawandel besonders betroffen sind, dürfen alle Personen ab 14 abstimmen und wählen – ebenso wie Ausländer, die seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz leben.
Realitätscheck: Das ist politisch utopisch. Schon das Stimmrechtsalter 16 ist höchst umstritten. Davon abgesehen wären die Konsequenzen «extrem klein bis null», sagt Politologe Lucas Leemann (39). «Einerseits würden gar nicht so viele Menschen dazu kommen und andererseits würden diese nicht komplett anders stimmen und wählen.»
9. Klima-Bildung
Idee: Schüler und Studenten, aber auch bestimmte Berufszweige, erhalten Klima-Bildung. Medien sollen zudem lösungsorientiert über die Klimakrise berichten.
Realitätscheck: Die letzte Forderung hält Journalistik-Professor Vinzenz Wyss (55) von der ZHAW für «naives Wunschdenken». Journalismus sei keine Bildungsinstanz. «Guter Journalismus sollte sich nicht vor den Karren einer Sache spannen lassen – auch nicht von einer guten.»
10. Weniger Ski fahren
Idee: Wo kein echter Schnee mehr fällt, darf nicht mehr Ski gefahren werden. Die Skigebiete erhalten Subventionen, um «nachhaltige und langfristige Alternativen für den Tourismus» zu fördern.
Realitätscheck: Umdenken ist bitter nötig: Schneesicher sind langfristig ohnehin nur noch Gebiete wie etwa Zermatt VS. In einem Szenario ohne Klimaschutz sind selbst die grössten Schweizer Gletscher bis zum Ende des Jahrhunderts weg.