Ist das schon der Einstieg in die vierte Welle? Innert Wochenfrist haben sich die täglichen Fallzahlen mehr als verdoppelt, am Dienstag vermeldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 274 neue Ansteckungen. Gleichzeitig stottert der Impfmotor, das Tempo lässt nach. Martin Ackermann (50), Präsident der nationalen Science Taskforce, warnt, dass die Schweiz «noch nicht ganz aus der Gefahrenzone» ist.
Denn eine starke vierte Welle könnte trotz knapp 3,3 Millionen vollständig Geimpfter immer noch massive Folgen haben. Erschwerend zur noch nicht genügend hohen Zahl von Geimpften kommt hinzu, dass laut Ackermann von den 1,2 Millionen über 70-Jährigen bislang «nur» 1 Million Antikörper entwickelt haben. Damit sind 200'000 Menschen aus der Risikogruppe ohne Impfschutz, während die ansteckendere Delta-Variante inzwischen bereits für jeden dritten Corona-Fall verantwortlich ist.
Impfquote von 85 Prozent erwünscht
Laut BAG soll die Impfbereitschaft zwar nach wie vor hoch sein, doch Impfwillige verschieben ihre Termine gerne auf nach den Sommerferien. Dabei wäre es jetzt wichtig, dass die Leute in die Impfzentren gehen. Denn von der ersten Impfung bis zum Zeitpunkt, an dem die zweite Impfung vollständig schützt, vergehen rund sechs Wochen. So bleibt die Schweiz kilometerweit entfernt von einer Impfquote von 85 Prozent, die laut dem deutschen Robert Koch-Institut nötig wäre, um die Delta-Variante unter Kontrolle zu haben.
Für Verhaltensökonom Gerhard Fehr (50) muss der Weg zu einer genügend hohen Impfquote über eine systematische Diskriminierung gehen: Wer auf den Piks verzichtet, soll bitte auch nicht mehr ins Restaurant oder ans Konzert können, sagte er im Blick-Interview. Der Aufschrei folgte sogleich. Allerdings: Ungeimpfte sind heute schon ein Stück weit diskriminiert – auch wenn BAG und Bundesrat das lieber nicht so sagen. Doch in der Praxis müssen sich Ungeimpfte laufend um einen aktuellen Corona-Test bemühen, ob sie nun in den Club gehen, in die Ferien fliegen oder eine Grossveranstaltung besuchen wollen.
«Kein Grund, sich zu drücken»
Und der Druck steigt, denn ein erneuter Lockdown soll vermieden werden. So plädiert Mitte-Nationalrat Lorenz Hess (60, BE) für strengere Zugangsregeln mit Covid-Zertifikat. Dieses dürfe zwar nicht im öffentlichen Bereich wie beim Service public oder an Gemeindeversammlungen zum Einsatz kommen. «Im Privatbereich hingegen braucht es eine Ausweitung auf Events, Sport und Kultur, wenn die Corona-Fallzahlen weiter steigen.» Denn eine vierte Welle könne sich die Schweiz wirtschaftlich nicht leisten. «Ausser aus medizinischen Gründen gibt es keinen Grund, sich davor zu drücken!»
Ähnlicher Ansicht ist FDP-Ständerat Andrea Caroni (41, AR). Natürlich wünsche er sich, dass Einschränkungen gar nicht mehr nötig seien. «Falls aber das Gesundheitswesen je wieder an seine Grenzen käme, dürften Einschränkungen nicht zulasten der Geimpften und Genesenen geschehen», hält er fest. Denn diese würden «zu Recht nicht verstehen, warum man ihre Freiheiten weiterhin einschränken sollte». Massnahmen müssten die potenziell Ansteckenden treffen. Und die Möglichkeit zur Impfung oder zumindest zum Testen hätten ja nahezu alle.
Gutjahr wittert Impfzwang
SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr (37, TG) hingegen ist «schockiert» von der Idee einer systematischen Diskriminierung von Ungeimpften. Denn der Impfentscheid müsse persönlich bleiben. «Man muss auch die Konsequenzen selber tragen, wenn man aufgrund einer Nichtimpfung stärker erkrankt als Geimpfte», so Gutjahr. Ähnlich klingt es von der anderen Ratsseite: Für SP-Nationalrätin Yvonne Feri (55, AG) wäre das ein «indirekter Impfzwang», während Parteikollegin Flavia Wasserfallen (42, BE) davor warnt, dass diese Massnahme gar kontraproduktiv sein könnte.
Allerdings ist klar: Explodieren die Zahlen wieder, wird der Bund alles dafür tun, um erneute Schliessungen zu verhindern. Ihre wiedergewonnene Freiheit soll die Bevölkerung nicht erneut abgeben müssen. Vor allem dann nicht, wenn sie schon doppelt geimpft ist.
Bund stellte Ungeimpfte schlechter
Laut der mittelfristigen Planung des Bundesrats würde der Weg bei einer dramatisch steil ansteigenden nächsten Welle tatsächlich auch über Einschränkungen für Ungeimpfte gehen. Heute ist es für Restaurants oder kleinere Veranstaltungen freiwillig, den Zutritt mittels Covid-Zertifikat zu beschränken. Wenn die Zahlen aber explodieren, könnte das zur Pflicht werden. Allerdings nur dann, wenn die Spitäler drohen ans Limit zu kommen, wie Virginie Masserey (56) vom BAG vor den Medien deutlich machte – als zusätzlicher Anreiz für Ungeimpfte käme diese Massnahme kaum in Frage.