Sie werden aus ihren Familien gerissen, nach Russland verschleppt, dort in Pflegefamilien oder eigentliche Umerziehungslager gesteckt. Die ukrainischen Behörden geben an, dass seit Beginn des Kriegs fast 20'000 ukrainische Kinder, viele von ihnen kriegsverletzt, nach Russland deportiert worden seien. Weniger als 400 konnten gemäss den Angaben bisher aufgespürt und in die Ukraine zurückgebracht werden.
Für die Ukraine steht fest: Sie braucht Hilfe. Im Februar dieses Jahres hat die Regierung darum mit Unterstützung Kanadas eine internationale Allianz ins Leben gerufen, die zum Ziel hat, die verschleppten Kinder zurück zu ihren Familien zu bringen. Der internationalen Koalition für die Rückkehr ukrainischer Kinder sind inzwischen 35 Staaten beigetreten. Darunter vor allem europäische Staaten wie Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich, aber auch die USA oder Costa Rica. Zuletzt kamen Liechtenstein und Slowenien dazu.
«Extrem erstaunlich»
Die Schweiz hingegen macht nicht mit. Und sie hat auch nicht vor, nächstens der Koalition beizutreten, wie aus der Antwort des Aussendepartments auf eine Blick-Anfrage hervorgeht. Das sorgt im In- und Ausland für Irritation.
Die Nicht-Teilnahme der Schweiz sei «extrem erstaunlich», findet Grünen-Vizepräsident Nicolas Walder (57). Auch die Ukraine und Kanada könnten dies nicht verstehen. Wie Walder sagt, hätten Vertreter der Länder das Unverständnis gegenüber der Schweizer Position vor Kurzem an einem Anlass im Bundeshaus deutlich zum Ausdruck gebracht.
«Als Depositarstaat der Genfer Konventionen wäre es logisch, wenn die Schweiz der Koalition beitreten und aktiv mit anderen Ländern an der Rückkehr der entführten Kinder arbeiten würde», sagt der Nationalrat der Genfer Grünen. «Es ist ein kompliziertes Dossier, das den Austausch von Informationen und eine enge Zusammenarbeit erfordert», so Walder. «Wenn die Schweiz isoliert bleibt, kann sie den ukrainischen Kindern nicht helfen, während sie in der Koalition ihr Fachwissen im Bereich des humanitären Völkerrechts und ihr ausgedehntes diplomatisches Netzwerk einbringen könnte.»
Bei den Deportationen handelt es sich um Kriegsverbrechen, weswegen der Internationale Strafgerichtshof vor einem Jahr Haftbefehle gegen Russlands Präsident Wladimir Putin (71) und die russische Kinderrechtsbeauftragte Marija Lwowa-Belowa (39) ausgesprochen hat.
Bund will nur beobachten
Doch warum will die Schweiz sich nicht beteiligen? Das EDA begründet das Abseitsstehen auf Nachfrage mit den beschränkten Ressourcen, die man habe. Man gewichte die «konkrete, praktische und wirkungsvolle Arbeit vor Ort und mit operationellen Partnern etwas höher als die Diskussionen in der Koalition». Die Schweiz setze sich in der Ukraine ein für das Finden, die Identifikation und Rückkehr von vermissten Personen, darunter Kinder. Dafür arbeite man unter anderem mit dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) zusammen.
Die Schweiz nehme aber als Beobachterin an den Sitzungen der Koalition teil. Das genüge, «um die Koordination sicherzustellen und Präsenz zu markieren».
Die Haltung erstaunt. Anders als bei der Repo-Taskforce, die Oligarchengelder aufspüren will und bei der die Schweiz auch nicht mitmachen will, spricht in diesem Fall politisch nichts gegen eine Teilnahme. Grünen-Politiker Walder fordert nun per Vorstoss eine Erklärung.
Die ukrainische Botschaft in Bern teilt mit, dass die Ukraine «zweifellos» einen Beitritt der Schweiz begrüssen würde. Es sei «äusserst wichtig», die gemeinsamen Anstrengungen zu intensivieren, um die verschleppten Kinder aufzuspüren und nach Hause zu bringen.