Der neue Schweizer «Tatort» ist hoch politisch und ziemlich kompliziert
«Züri brännt» an allen Ecken und Enden

Am kommenden Sonntag läuft der mit Spannung erwartete erste SRF-«Tatort» aus Zürich. Die neuen Ermittlerinnen hinterlassen einen ansprechenden Eindruck, verlieren sich allerdings in einem zu komplizierten Fall vor dem Hintergrund der Zürcher Jugendunruhen von 1980.
Publiziert: 14.10.2020 um 00:11 Uhr
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Aktualisiert: 14.10.2020 um 15:02 Uhr
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Anna Pieri Zuercher (l.) ist Isabelle Grandjean, Carol Schuler spielt Tessa Ott. Die beiden neuen «Tatort»-Ermittlerinnen geraten gleich zu Beginn ihres ersten gemeinsamen Einsatzes heftig aneinander, und ihr Chef muss schlichtend eingreifen.
Foto: ARD Degeto/SRF/Sava Hlavacek
Jean-Claude Galli/Peter Padrutt

Man kann dem aktuellen Schweizer «Tatort» einen gewissen Eifer nicht absprechen. Da gibt es die neuen Ermittlerinnen Anna Pieri Zuercher (41) als Isabelle Grandjean und Carol Schuler (33) als Tessa Ott, die sich von Beginn an wohltuend fetzen. Doch statt ihre Charaktere zu entwickeln, zwängt man sie in einen komplexen Fall, der 40 Jahre zurückliegt. Es geht um die Jugendunruhen von 1980. Damals genehmigte der Zürcher Stadtrat 60 Millionen Franken für die Renovierung des Opernhauses, verwehrte aber einem autonomen Jugendzentrum jegliche Unterstützung.

Von der ersten Minute an ist erkennbar: Man wollte bei «Züri brännt» (läuft diesen Sonntag auf SRF 1) jede aufkeimende Kritik vermeiden, wie sie vor neun Jahren bei der Lancierung des ersten Luzerner «Tatorts» namens «Wunschdenken» laut wurde. «Dieser Krimi genügt unseren Ansprüchen nicht», es wimmle von «plumpen Schweizer Klischees», hatte die damalige Kulturchefin Nathalie Wappler (52) den ersten Gubser-Krimi gerügt.

Zu viele Figuren und Dialoge

Dass mit dem politischen Zürcher «Tatort» alles besser wird, bleibt aber grösstenteils Wunschdenken. Das akribische Interesse von Ott und Grandjean an den historischen Ereignissen ist nicht nachvollziehbar, es wimmelt von Figuren und überflüssigen Dialogen.

Die Geschichte wird dadurch verkompliziert, dass der Fokus nicht auf den Unruhen allein liegt. Es geht auch um eine verführerische V-Frau, die von der Polizei in die Bewegung eingeschleust wird, ein Verhältnis mit mehreren Beteiligten hat und schliesslich ums Leben kommt.

«Der Fall ist frei erfunden»

Dass diese abenteuerliche Geschichte niemals so stattgefunden hat, bestätigt Urs Broder 76), ehemaliger Staatsanwalt und stv. Leiter der Bezirksanwaltschaft Zürich. 1980 war er Chef der für die Demos zuständigen Krawall-Gruppe. «Einen solchen Fall hat es nie auch nur annähernd gegeben, er ist frei erfunden», sagt er BLICK.

Daneben sei aber vieles ähnlich passiert: «Tatsächlich schleuste die Stadtpolizei V-Leute in die Szene ein. Damals gab es ja keine sozialen Medien zur Kommunikation unter den ‹Bewegten›, und wir mussten uns daher auf andere Weise Informationen beschaffen.»

Dass V-Leute damals wie im Film enttarnt worden wären, ist Broder nicht bekannt. Was die Darstellung der Unruhen betreffe, werde grundsätzlich nicht einseitig oder tendenziös erzählt.

Nebst den Kommissarinnen sind neu der Kommandant und die Staatsanwältin, deren Darstellung Broder lobt: «Man bemüht sich, diese Abläufe richtig wiederzugeben. Auch in der Praxis ist ein Staatsanwalt der Chef der Ermittlungsarbeit. In Luzern wurde da ein falsches Bild vermittelt.»

Brutale Szene schiesst übers Ziel hinaus

Die politische Haltung von Regisseurin Viviane Andereggen (35) ist wiederholt spürbar. Das wäre von Vorteil gewesen, um die Story verständlich erzählen zu können – vielleicht sogar so berührend, dass sie Zuschauer in Deutschland und Österreich ebenfalls verstehen könnten. «Ich war lange in der Punk-Bewegung in Zürich und Basel und so auch in der Besetzerszene», erklärt sie. «Nie wieder wurde mit so unkonventionellen und kreativen Mitteln für mehr kulturelle Autonomie gekämpft wie in den 80er-Jahren. Das finde ich nach wie vor beeindruckend.»

Manchmal schiesst sie jedoch übers Ziel hinaus. Es gibt eine brutale Szene, welche wie eine moralische Abrechnung mit der Polizei wirkt. Die Ermittlerinnen besuchen den früheren Kommandanten in einem Pflegeheim. Er wirkt dement, kann nicht sprechen. «Erinnern Sie sich an die Frau?», fragt ihn Ott hartnäckig. Schliesslich kappt sie den Sauerstoffschlauch, bis er zu röcheln beginnt.

«In der Realität würden die Frauen zur Staatsanwältin zurückkehren und ihr melden, der Mann sei nicht mehr einvernahmefähig. So eine Handlungsweise ist höchst unwahrscheinlich und würde ein Disziplinarverfahren nach sich ziehen», sagt Broder. Grundsätzlich hält er aber anerkennend fest: «Punkto Vorgehen aller Ermittler sind wir näher an der Realität als in Luzern, was für den Zürcher ‹Tatort› spricht.»

Trailer-Premiere ab 8.00 Uhr bei blick.ch.

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