Auf einen Blick
- Tim Fehlbaums Film «September 5» zeigt das Münchner Attentat aus Reporterperspektive
- Regisseur übt subtile Journalismuskritik und schafft intimen Medien-Thriller
- 670 Millionen Menschen sahen die Mondlandung, fast 1 Milliarde das Münchner Attentat
1969 und 1972 zischen zwei Sätze über den Äther, die Weltgeschichte schreiben sollten – aus völlig unterschiedlichen Gründen. Den ersten, «Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein grosser für die Menschheit», sehen und hören am 20. Juli 1969 schätzungsweise 670 Millionen Menschen. Der zweite, «Sie sind alle tot», erreicht drei Jahre später fast eine Milliarde Zuschauerinnen und Zuschauer. Einmal betritt Astronaut Neil Armstrong (1930–2012) den staubigen Mondboden. Beim anderen Mal wird Sport-Reporter Jim McKay (1921–2008) zum Boten dramatischer Nachrichten: Am 5. September 1972 werden am Rand der Olympischen Spiele in München 11 der 14 israelischen Teilnehmer Opfer einer Geiselnahme durch palästinensische Terroristen.
Beide Ereignisse sind seit jeher eine Steilvorlage für Hollywood. Die Mondlandung wurde in all ihren Nuancen ausgeschlachtet, meist machten die Filmemacher daraus ein (amerikanisches) Heldenepos – die Geschichte ist auserzählt. Beim Münchner Attentat ist es anders. Während Regiepapst Steven Spielberg (78) mit seinem Drama «Munich» 2005 tief in die Trickkiste der Fiktion griff (und das ziemlich gut), wagt sich Regisseur Tim Fehlbaum (42) in «September 5» auf genauso reizvolles wie riskantes Terrain: Der Basler erzählt die Geschichte des Attentats aus der Perspektive eines Sportreporter-Teams des US-Senders ABC, das den Verlauf der Ereignisse von A bis Z im Livestream abbildet – und mehr: Die Kamera verlässt dabei höchstens viermal das enge Sendezentrum am Rand des Olympiadorfs.
Was darf ich zeigen?
Mit dieser Auslegung ist Fehlbaum, der selbst in München an der Filmhochschule studiert hat, ein künstlerisches Husarenstück gelungen. Einerseits treibt der Regisseur in seinem dritten Spielfilm das Publikum in bester Hitchcock-Manier zu abgenagten Fingernägeln, andererseits übt er subtile Journalismuskritik: Was darf ich zeigen? Wo hört Berichterstattung auf und wo fängt Voyeurismus an? Am Rande der Solothurner Filmtage sagt Fehlbaum zu Blick: «Das Interessante an unserer Prämisse war, dass es sich nicht um ein ausgebildetes Reporter-Team handelte, sondern um Menschen vom Sport, die einige Stunden zuvor noch über einen Schwimmwettbewerb berichtet haben.»
Als Sendeverantwortlicher sieht sich der junge Geoff Mason (damals knapp 30, gespielt vom oscarreifen John Magaro, 41) plötzlich mit existenzielleren Fragen als den neusten Sportergebnissen konfrontiert. Fehlbaum führt sie aus: «Kann man im Live-Fernsehen Gewalt zeigen?» Beantworten möchte er sie nicht, sondern «vielmehr eine Diskussion anregen». Vielleicht hat der Basler ein neues Genre geschaffen: den intimen Medien-Thriller. «Sie kennen diese Zerrissenheit als Journalist sicher: Man will möglichst schnell eine Nachricht rauslassen, braucht aber noch mindestens zwei bestätigte Quellen», erklärt er. Fehlbaum hat recht: Einerseits möchte sich der Protagonist profilieren, andererseits seiner eigenen Moral und dem Leid der Angehörigen gerecht werden. Man muss nicht zwingend Journalist sein, um hier Krimi-Stoff erster Güte zu erkennen.
«Es war der wichtigste Tag seiner ganzen Karriere»
Dass Oscar-Mitfavorit Fehlbaum auf genau diese Form, ein Kammerspiel mit aufregend schnellem Schnitt, gekommen ist, hat sehr viel mit dem damaligen Sendeverantwortlichen Geoff Mason zu tun: «Aus einem zwanzigminütigen Zoom-Call wurden plötzlich über zwei Stunden», erzählt der Basler. Danach habe er zu seinem Co-Autor gesagt: «Der hat uns gerade unseren Film erzählt.» Von da an sei klar gewesen, dass man die Geschichte des Münchner Attentats auch aus einer einzigen Perspektive erzählen könne.
Tatsächlich nimmt man Fehlbaum diesen ungewohnten Blickwechsel in keinem Moment krumm. Ausserdem hat er mit Übersetzerin Marianne Gebhardt (gespielt von Leonie Benesch, 33) doch noch ein Bindeglied zur Aussenwelt geschaffen, das symbolisch für die (nicht) funktionierende Kommunikation zwischen den Nationen steht. «Sie ist die einzige Figur, die es so nicht gab. Wir haben sie aus mehreren realen Personen zusammengebaut», erklärt Fehlbaum. «Für uns war klar, dass wir den politischen Kontext Deutschlands in einer Figur widerspiegeln mussten.» Gebhardt ist im Film zum Beispiel die Person, die den Funk der völlig überforderten Münchner Polizei abhört – die auf dem Olympiagelände unbewaffnet blieb.
Zur Erinnerung: Nach den Nazi-Propaganda-Spielen von 1936 in Berlin wollte sich Deutschland als liberale Vorzeigeveranstalterin zeigen, deren höchstes Gut auch der Schutz der jüdischen Athletinnen und Athleten war. Der Ausgang ist bekannt. Übrigens: Dass sich die Veröffentlichung von «September 5» mit dem Gazakonflikt und der Geiselnahme von Israelis durch die Hamas schneidet, ist ein Zufall. Die Dreharbeiten waren schon vor dem 7. Oktober 2023 abgeschlossen.
Am frühen Morgen des 3. März werden wir wissen, ob Tim Fehlbaum der 14. Schweizer Academy-Award-Gewinner ist. «September 5» als eindrückliches Zeitdokument und Medien-Thriller hätte den Oscar für das beste Drehbuch mehr als verdient.
«September 5» läuft aktuell in den Deutschschweizer Kinos.