Streamingdienste beherrschen TV- und Film-Welt
Sind Netflix und Co das neue Kino?

Beliebte Streamingplattformen wie Netflix oder Disney+ lösen das traditionelle Kino immer mehr ab. Doch bedeutet das tatsächlich das Ende der Grossleinwand? Experten sind geteilter Meinung.
Publiziert: 15.01.2023 um 20:50 Uhr
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Beliebte Streamingplattformen wie Netflix lösen das traditionelle Kino immer mehr ab. Heute dominieren Streaming-Hits wie «Wednesday» die Schlagzeilen oder die Gespräche in der Kaffeepause.
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Patricia BroderRedaktorin People

Couch statt Kinosaal: Beliebte Streamingplattformen wie Netflix, Disney+, Sky oder Amazon Prime lösen das traditionelle Kino immer mehr ab. Heute dominieren nicht mehr die neusten Blockbuster die Gespräche in der Kaffeepause, sondern Streaming-Hits wie «Harry & Meghan», «Dahmer» oder aktuell «Wednesday», die Mystery-Serie von Kult-Regisseur Tim Burton (64). Letztere ist im Begriff, eine der erfolgreichsten Netflixserien aller Zeiten zu werden.

«Corona hat das Filmemachen komplett auf den Kopf gestellt», sagt der Zürcher Regisseur Michael Steiner (53), der in diesen Wochen den ersten Schweizer Netflixfilm dreht, kürzlich in einem Interview an dieser Stelle. «Netflix ermöglicht Filmemachern, für lokale Produktionen ein internationales Publikum zu erschliessen. Für uns bietet sich also die Möglichkeit, die Schweiz in der ganzen Welt zu repräsentieren.» Als Filmemacher werde man so zum Botschafter für sein Land. «Netflix-Movies können für die Schweiz wertvoller werden als alle Tourismus-Kampagnen.»

30 Prozent der Inhalte müssen aus Europa stammen

Und die Streaming-Kracher der letzten Monate geben Steiner recht. So hat beispielsweise der Netflix-Kassenschlager «Squid Game» aus Südkorea nach seinem weltweiten Erfolg einen plötzlichen Hype um koreanische Produktionen ausgelöst. Die spanische Hit-Serie «Haus des Geldes» ebnete den Weg für weitere Grossproduktionen der Iberischen Halbinsel oder aus Mittel- und Südamerika. War früher unsere Sehgewohnheit durch Hollywood und den damit verbundenen amerikanischen Stereotypen geprägt, spielen die heutigen Filme und TV-Serien in den unterschiedlichsten Ländern und Kulturkreisen der Welt. Dafür mitverantwortlich ist auch eine EU-Richtlinie, die seit Herbst 2018 festlegt, dass mindestens 30 Prozent der Inhalte bei Video-Streamingdiensten aus Europa stammen müssen. Eigens produzierte und beliebte Formate wie «The Crown» (Grossbritannien), «Lupin» (Frankreich), «365 Days» (Polen), «Haus des Geldes» (Spanien), «Dark» (Deutschland) und viele weitere stellen das bereits sicher.

Die internationale Reichweite, die ein Streaminganbieter wie Netflix ermöglicht, hat denn auch zur Folge, dass heimische Produktionen heute müheloser die internationalen Film-Charts erobern. So schaffte es Anfang des Jahres beispielsweise der deutsch-schweizerische Sci-Fi-Film «Tides» von Regisseur Tim Fehlbaum (40) mit Joel Basman (32) in die Top 5 der amerikanischen Netflix-Charts und verdrängte damit den DiCaprio-Streifen «Don’t Look Up». Oder der Zürcher Filmemacher Philippe Weibel (48) hat es vor kurzem mit seinem Spielfilm «The Art of Love» als erster Schweizer Regisseur überhaupt geschafft, dass sein Werk bei Netflix in Grossbritannien und in Irland gezeigt wird – neue Streaming-Welt sei Dank.

«Die Branche braucht die Kinos»

Im Kino herrscht derweil Katerstimmung. Im Pandemiejahr 2020 betrug der Verlust weltweit 181 Millionen Franken. Die Ticket-Einbussen beliefen sich auf 8,5 Millionen, was einem Rückgang von 70 Prozent gegenüber 2019 entsprach. «Über Nacht sind wir von einer Branche mit einem Jahresumsatz von 15 Milliarden Dollar zu einem Geschäft geworden, das drei bis vier Monate keinen Penny einnehmen wird», erklärte damals John Fithian (59), Chef des US-Kinoverbands. Die Krise sei lokal wie global. Eine Krise, von der man sich auch in der Schweiz noch nicht ganz erholt hat, wie Blue-Kino-Chef Grégoire Schnegg in der «Handelszeitung» kürzlich erklärte. Dennoch glaubt er fest an die Zukunft der Grossleinwand: «Das Erlebnis im Kino ist mit nichts zu vergleichen. Und nur vom Streaming kann die Filmwirtschaft auch nicht leben.» Während der Pandemie habe es in Hollywood Manager gegeben, die gemeint hätten, sie könnten die Filme ohne die Kinos direkt über Streaming lancieren. «Das ist gescheitert. Die Branche braucht die Kinos, und sei es nur für die Publizität für den Film.»

Kooperation von Streaming und Kino

Doch vielleicht können ja Kino und Streamingdienste in Zukunft auch als Kooperation existieren? Dass dies ein lukrativer Deal sein kann, zeigt der aktuelle Netflix-Hit «Glass Onion: A Knives Out Mystery» mit Daniel Craig (54) als Meisterdetektiv Benoit Blanc. Die Fortsetzung von «Knives Out – Mord ist Familiensache», dem Überraschungserfolg aus dem Jahr 2020, hat Netflix Ende November eine Woche lang in die internationalen Kinosäle gebracht. Einen Monat später, am 23. Dezember 2022, startet der Film weltweit auf der Streamingplattform. Mit dem Kino-Release will Netflix einerseits vorab Begeisterung beim Publikum entfachen, andererseits kann der Streifen so auch für renommierte Filmpreise nominiert werden.

Aber auch in diesem Bereich ist Streaming dem herkömmlichen Kino bereits dicht auf den Fersen: So bringt es Netflix beispielsweise in den vergangenen Jahren auf insgesamt 116 Oscar-Nominierungen – und 16 der begehrten Goldmännchen gingen dabei an den US-Streaminggiganten.

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