Das Bündnerland verlässt Philipp Gurt (56) nur ungern. Trotz des Schreckens, den er im Kanton erlebt hat. Er wohnt in Chur, schreibt in Chur, und wenn ein neues Buch erscheint, stellt er es in Chur vor. Das passiert mehrmals im Jahr. 2024 werden es fünf Neuerscheinungen sein. Jüngst landen die Romane immer zuvorderst auf der Schweizer Bestsellerliste. So auch sein neustes Buch, «Bündner Blutmond», eine packende Mischung aus Kriminalroman und Psychothriller, in der eine junge Frau in einer Alphütte festgehalten wird und die Ermittlerin Giulia de Medici ihre einzige Hoffnung auf Rettung darstellt. Der Kriminalroman stieg direkt auf Platz zwei der Schweizer Bestsellerliste ein. «Ich habe sogar Martin Suter mit seinem neuen Allmen-Krimi geschlagen. Das ist mir davor noch nie gelungen», sagt Gurt mit einem Lächeln im Gesicht.
Philipp Gurt verpackt in seinen Büchern ebenso düstere und packende Mordgeschichten wie die bekannten skandinavischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Es muss nicht immer eine Leiche in Stockholm oder Oslo sein, Familiendramen, die Gurt cineastisch erzählt, können sich auch ganz nah abspielen. Dies hat er selbst erlebt. Von seinem Garten am Churer Stadtrand – hier sitzt der Schriftsteller an sonnigen Tagen und schreibt an seinen Büchern – sieht er das Heim, in dem er aufgewachsen ist. Die Mutter verliess die arme Bergbauernfamilie. Die Behörden trennten Philipp und seine sieben Geschwister. In den verschiedenen Kinderheimen erlebte er Gewalt und Missbrauch, was er in seinem Buch «Schattenkind» aufarbeitete. Den Kanton, in dem das alles passierte, wollte er nie hinter sich lassen: «Wer vor einem Trauma flieht, nimmt es immer mit sich», sagt er.
Das Gefühl, nicht zu genügen
An dem Apriltag, an dem er davon er zählt, wirkt das alles weit weg. Philipps Ehefrau Judith bereitet eine Schulstunde vor, während er die Hühner im Garten füttert. Froschquaken erklingt aus dem Teich. Angeblich sollen sich dort auch zwei Schlangen verstecken. Das Schreiben liegt Philipp Gurt, seit er sich erinnern kann. Er spricht von einer Möglichkeit, wieder sprechen zu lernen, denn als er als Kind ins Heim kam, raubte ihm das die Worte. Das Kind sprach nicht mehr. Durch die Bücher fand es zurück zum Reden. «Meine Biografie ist meine Schaffenskraft. Vielleicht bin ich deshalb im Reinen mit meiner Vergangenheit.» Enid Blyton, die britische Autorin, inspirierte Gurt als Jugendlichen, selbst zu schreiben. Er fand darin Spannung und Tiefgang, die Kombination, die ein gutes Buch brauche, sagt er. Ein solches zu schreiben – das war immer sein Ansporn. Mit «Schattenkind» kam der grosse Erfolg, Philipp Gurt arbeitete nebenbei als Informatiker.
Dieser Artikel wurde aus der «Schweizer Illustrierten» übernommen. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.
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Vor vier Jahren traf er schliesslich Daniel Kampa. Der Verleger mit einem Feingefühl für gute Bücher landete bereits mit der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk einen Coup in der Buchbranche und publiziert Hochliteratur ebenso wie Krimis. Gurt fand beim Zürcher Verlag seine literarische Heimat. «Meine Bücher sind Kriminalromane. Der Mord ist ein Mittel zum Zweck. Mich interessieren aber vor allem die Momente, in denen die Figuren auf sich selbst zurückgeworfen werden», sagt er. Noch stärker kommt das in den Fällen von Corina Costa vor, einer weiteren Kriminalreihe Gurts, die mit «Die Tote im St. Moritzersee» im Juni einen zweiten Teil zum Vorgänger «Mord im Bernina Express» erhält. «Swissness pur» nennt der Autor diese Bücher, ein Konzept, das gerade bei der deutschen Leserschaft gut ankommt.¨
Jedes Buch muss nur vor ihm selbst bestehen
Doch auch in Graubünden hat Philipp Gurt eine treue Fangemeinschaft. In der Churer Buchhandlung Lüthy, wo er seine Debütlesungen hält, hat er sogar sein eigenes Bücherregal. Denn, so verrät die Leiterin der Buchhandlung, seine 25 gefragten Romane hätten im Regal «Schweizer Literatur» kaum mehr Platz. «Ich bilde mir nichts auf meine Verkaufszahlen ein», so der Autor, «aber ich bekam als Kind nie das Gefühl, ich hätte etwas gut gemacht, sondern immer jenes, nicht zu genügen. Mein literarischer Erfolg widerspricht dem. Obwohl ich das natürlich auch aus mir selbst heraus weiss.» Mittlerweile hat Philipp Gurt die Bestätigung, die er sich als Kind wünschte. Lediglich das Feuilleton – die Berichterstattung in den Kulturteilen gewichtiger Tageszeitungen – ignoriert ihn nach wie vor. Philipp Gurt weiss zwar: «Ein Literaturpreis wird von wenigen Leuten gemacht, aber die Bestsellerliste von allen.» Trotzdem kämpft er gegen die Auffassung, der Kriminalroman stehe höherer Literatur entgegen, mit jedem neuen Buch an. Aber schlussendlich, sagt er, müsse jedes Buch ohnehin nur vor ihm selbst bestehen.