Er war der Ausbrecherkönig der Schweiz: Walter Stürm (1942–1999) büxte in den 70er-, 80er-und 90er-Jahren mehrfach aus Schweizer Gefängnissen aus. Mit «Stürm: Bis wir tot sind oder frei» kommt nun der Film mit Joel Basman (31) in der Rolle des frechen Kriminellen in die Kinos. Eine prägende Rolle darin hat Marie Leuenberger (41), die Stürms legendäre Anwältin Barbara Hug (1946–2005) verkörpert.
Blick: Können Sie sich mit Jahrgang 1980 an die Zeit erinnern, als Walter Stürm eine populäre Figur war?
Marie Leuenberger: Ich war damals noch zu klein. Aber alle mit Geburtsjahr 1975 und älter hatten stets ein Lächeln im Gesicht, wenn ich sagte, ich sei bald in einem Film über Stürm zu sehen. «Oh, Stürm, der war bei uns früher ein Thema am Küchentisch», erzählten sie dann. «Wir haben gejubelt, wenn er wieder ausgebrochen ist.» Schon an diesen Reaktionen konnte ich erkennen, dass er eine «Nummer» gewesen ist.
Was hat Sie bewogen, die Rolle seiner Anwältin anzunehmen?
Die Vielschichtigkeit beider Figuren und dass sie in kein Klischee passen. Bei ihr ist es noch eklatanter, weil sie eine dieser seltenen Frauenfiguren in einem Film ist, die sich nicht über eine Beziehung, über Kinder oder eine Familie definiert. Hug ist eine Frau, die für sich selber steht, für ihren Standpunkt kämpft, sehr heftig auf verbale Weise, aber auch körperlich. Und dabei weder auf sich noch auf andere Rücksicht nimmt. Sie raucht, trinkt, flucht, argumentiert und faucht. Schon die erste Drehbuchversion 2016 war sehr sinnlich und las sich fast wie ein Roman. Dass der Drehbeginn mehrfach neu angesetzt wurde, hat dem Film gutgetan. Jede neue Fassung war noch kompakter, noch leidenschaftlicher.
Hug und Stürm wirken auf den ersten Blick sehr unterschiedlich. Was verband die beiden?
Sie sind zwei Universen, die umeinander kreisen, nie wirklich zueinanderfinden, aber sich permanent voneinander angezogen fühlen. Diese Liebesgeschichte faszinierte mich ungemein. Die Drehbuchlektüre war ein Wechselbad von Lachen, Heulen, Schmerz und Verzweiflung, sehr komplex und vielschichtig. Und ich dachte: Mein Gott, wie stelle ich das jetzt nur dar? Auch weil meine Persönlichkeit ganz anders ist als jene von Hug. Für mich war es ein grosser Schritt, mich auf diese Frau einzulassen, ein Wagnis, sie darzustellen. Ähnlich, wie wenn ich vor einem Rubens-Bild stünde, das mich beinahe erschlägt. Die Schwierigkeit bestand darin, diese Barbara Hug so darstellen zu können, dass sie beim Publikum emotional Ähnliches auslöst wie bei mir selber. Zumal es ja auch die echte Barbara Hug gegeben hat und ich in meiner Arbeit noch nie jemanden verkörpert hatte, der irgendwann real existierte. Das ist Ehre und Bürde, weil man dieser Person möglichst respektvoll begegnen und gerecht werden will.
Und Sie hatten keine wirkliche Messlatte ...
Genau, ich habe Hug nie persönlich kennengelernt, und es gab auch sonst wenig Greifbares. Ich sprach mit Weggefährten und mit Dialysepatientinnen, wie sich so eine Nierenkrankheit anfühlt, an der sie litt. Ich schaute mir Fotos an, mehr hatte ich nicht. Wie ich sie nun im Film darstelle, ist ein Stück weit fiktiv. Wir sprechen von «wahren Begebenheiten», haben uns aber schon künstlerische Freiheiten genommen. Das war hilfreich, weil ich Hug aufgrund der lückenhaften Vorlage nicht hätte imitieren können. Lady Di könnte man imitieren, sie nicht. Ich hatte vor allem das Drehbuch. Deshalb musste ich mich befreien von der echten Barbara Hug und zu meiner Version kommen. Das Gemälde, das ich vor meinem inneren Auge sah, sorgfältig auf die Leinwand bringen, Stück für Stück zusammensetzen, jede Szene ein Stein – wie ein Mosaik.
Sind Sie zufrieden mit dem Gesamtbild?
Ich bin – und so etwas sage ich selten – wirklich stolz auf diesen Film. Ich finde, alle Abteilungen haben diesem Film so viel Gutes gegeben. Was natürlich auch Regisseur Oliver Rihs zu verdanken ist, weil er uns zusammengetrommelt hat, um seine Vision mit seiner sanften, unglaublich kreativen Art in Szene zu setzen.
In «Stürm» wird wahnsinnig viel geraucht. Insbesondere Hug ist fast nie ohne Zigarette zu sehen. War das ein Problem?
Ich bin selber Gelegenheitsraucherin, würde mich aber eher als Nichtraucherin bezeichnen. Ja, das war etwas, was mir Angst machte. Es gibt so viele Szenen, in denen Hug raucht, und mir tut Rauchen definitiv nicht gut. Aber eigenartig, während des Spielens geschah das Rauchen dann einfach. Erst beim jetzigen Anschauen staune ich, wie ich das hingebracht habe. Grundsätzlich sind das Rauchen oder die Krücke, auf die Hug angewiesen ist, aber tolle Mittel, einer Figur mehr Farbe zu verleihen.
Wie schätzen Sie die Lovestory zwischen Hug und Stürm ein, die im Film mehrfach angedeutet wird?
Ich kann mich da nur auf Oliver Rihs berufen. Zuerst ging es darum, einen Film über Stürm zu machen. In den Recherchen tauchten dann immer wieder der Name Hug und eine Verbindung der beiden auf. Starke Sympathien und Spekulationen, dass es auch mehr gewesen sein könnte. Beweisen liess sich das nicht. Das markierte den fiktiven Moment des Drehbuchschreibens: zu sagen, wir machen daraus auch eine Liebesgeschichte. In den Interview-Aufnahmen von Stürm-Biograf Reto Kohler mit Hug Anfang der 2000er-Jahre spürt man ihre Faszination Stürm gegenüber. Und auch Verständnis für seine komplizierten Vorstellungen von Freiheit. Sie mussten philosophisch eine ähnliche Auffassung von Gerechtigkeit gehabt haben. Sie lebten diese nur unterschiedlich aus. Sie mit dem Gesetz im Rücken, er ohne Gesetz, gegen das System. Sie waren zwei Extreme, die sich gefunden hatten.
Erscheint Stürm durch den Film nicht in einem etwas gar milden Licht?
Kaum. Er wird ja nicht als gutmütiger Held gezeigt, der seinen Reichtum unter den Armen verteilte. Er wollte ganz egoistisch ein gerechteres Justizsystem und verfolgte keine politischen Interessen für die Allgemeinheit. Auch wenn seine Einsprachen und Gesuche anders interpretiert werden können. Wofür er sich sicher vehement einsetzte: Auch wenn man eingesperrt ist, hat man ein Recht auf Würde und menschliche Behandlung inklusive geniessbarer Verpflegung wie dem Birchermüesli, das im Film mehrfach vorkommt. Er glaubte an den Rechtsstaat. Weil Ausbrechen an sich nicht strafbar ist, er aber immer härter bestraft wurde, empfand er dies dadurch als nicht gerecht. Gegen diese Willkür setzte sich auch Hug ein. Wir verherrlichen Stürm nicht. Aber wir geben ihm eine Stimme. Und durch Hug kann man sich auch ein wenig in ihn verlieben. Aber die Zuschauer werden gleichzeitig abgestossen durch seine kriminellen Handlungen. Man leidet mit beiden mit, bis zum Schluss.
Marie Leuenberger
In Basel als Tochter einer deutschen Mutter und eines Schweizer Vaters aufgewachsen, absolvierte Marie Leuenberger bis 2002 ihre Schauspielausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule in München (D). Danach gehörte sie zum Ensemble des Schauspielhauses Hamburg. Der Durchbruch gelang der zweifachen Mutter mit «Die Standesbeamtin» (2009), für den sie den Schweizer Filmpreis als beste Darstellerin erhielt. 2017 folgte ihr grösster Erfolg im Kassenschlager «Die göttliche Ordnung». Zuletzt war sie in der deutschen Serie «Blackout» zu sehen. Leuenberger lebt in Berlin.
In Basel als Tochter einer deutschen Mutter und eines Schweizer Vaters aufgewachsen, absolvierte Marie Leuenberger bis 2002 ihre Schauspielausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule in München (D). Danach gehörte sie zum Ensemble des Schauspielhauses Hamburg. Der Durchbruch gelang der zweifachen Mutter mit «Die Standesbeamtin» (2009), für den sie den Schweizer Filmpreis als beste Darstellerin erhielt. 2017 folgte ihr grösster Erfolg im Kassenschlager «Die göttliche Ordnung». Zuletzt war sie in der deutschen Serie «Blackout» zu sehen. Leuenberger lebt in Berlin.